Vom Schicksal vorgesehen, alt zu werden
CHRISTOF DREXEL
Mit zweiundneunzig ist die Balance des Gleichgewichts
gefährdet. Den Ausgleich schafft unter Umständen eine selbst gestellte Aufgabe. Christof Drexel, Maler, während der NS-Zeit Farbgestalter, weil zu den Entarteten gehörend, brachte dieses Kunststück fertig.
Hühnenhafter Wuchs ermöglichte ihm, anstandslos über die Köpfe anderer zu spucken. Aber dies lag ihm eigentlich nicht, er war Gentleman.
Als sich unsere Wege kreuzten, war er damit beschäftigt,
seine letzte künstlerische Form voranzutreiben.
"Formen des Menschseins" nannte er sie. Geplagte Zeitgenossen- und Genossinnen; waren sie doch im großen
Maße Gehetzte des Lebensalltags, wie wir gewohnt sind,
diesen zu bezeichnen.
Wahrscheinlich benötigt derjenige, der über solche Menschen "zu Gericht" sitzt, den nötigen Abstand, um sie bildnerisch darzustellen. Und besser hätte man dies nicht
im Entferntesten vollbringen können.
Mit farbiger Kreide, auf schwarzem Ingres-Papier, im Hochformat, starrten sie in die Welt, deren lebhafter Teil
sie waren.
Sie ahnten nichts, von der Form ihres Daseins, dies blieb
Individuen vorbehalten, die in Abstand zur gelebten Zeit
standen: eben Christof Drexel.
Nicht, dass er über sie richtete, im Gegenteil, jedem, der
ihn besuchte, empfahl er, sich auf den Boden zu setzen,
inmitten der "Formen des Menschseins", und sich eine
"Person" herauszunehmen, mit der zu „korrespondieren“
ihm wichtig erschien.
Zu diesem Thema machte er auch noch einen 35 mm,
Colorfilm, "Maske & Gesicht", für den er Rai Müller, einen
renommierten Dokumenmatarfilmer, als Kameramann engagierte. Diese Produktion wickelte er natürlich selbst ab, ohne öffentliche Unterstützung. Dazu hätten wahrscheinlich auch keine öffentlichen Gelder zur Verfügung gestanden, weil sich die Entscheidungsträger nicht getraut hätten, ihm, in diesem Alter, öffentliche Gelder zu gewähren. Außerdem hätte dies ihrem Mainstream widersprochen.
Nun, als ich auf ihn traf, saß er in der Nikolaistraße, in München, nach einer langen Wanderschaft durch die Zeitgeschichte und das Leben, ohne eine Spur von Arroganz, ob seines hohen und erfahrungsreichen Lebens.
Er war höflich, zuvorkommend, distinguiert. Gäste wurden
trotz seines Alters zuvorkommend empfangen und soweit
gewünscht, bedient. Tee und Gebäck gehörten zum
Mindeststandart.
Auch zuzuhören war eine löbliche Tugend von ihm oder gar zu schweigen.
Unsere Gemeinsamkeit bestand darin, dass ich mich für
sein Werk interessierte. Dabei ergab es sich fast von
selbst, dass ich auch dem Menschen allmählich verbunden wurde. Was durchaus eine nicht zu missende Qualität hatte. Ich hatte gerade einmal ein Drittel seines Alters
hinter mir. Aber dies störte ihn nicht, im Gegenteil, es befriedigte seine Neugierde am Leben.
Meinerseits befriedigte mich meine Neugierde für sein Werk. Zu diesem Zweck kroch ich unter die Couch und zog die Mappen hervor, die dicht aufeinander lagen. Und nur was seine künstlerische Berechtigung hatte, befand sich darin.
So begannen alle Tage, an denen ich ihn besuchte.
Ahnte er, dass seine Tage gezählt waren?!
Diese Begegnungen wurden meistens unterbrochen, durch den Hausarztbesuch. Eigentlich war es eine Liebesbeziehung zwischen dem Arzt und dem Maler.
Ihr Umgang war so herzlich, wohlgestimmt, und ermahnend, dass der Patient nicht zu viel rauche, und auch
sonst..., nunja, er wüsste schon, sich mit Worten gegenseitig liebkosend. Ich stand häufig daneben, als "Brautstifter", und lauschte aufmerksam dem Treiben.
War der Arzt wieder gegangen, trat ein Moment der
Stille in den Raum. Nach einer Weile unterbrach ich diese
Stille, es war ja Teil ihrer Zuneigung, und begann weiter
die Blätter in den Mappen durchzusehen. Häufig schaute
Christof Drexel dann zu, um plötzlich seine Zustimmung für ein Motiv zu geben.
Wochen verstrichen in diesem Rhythmus, ich kam, wir begannen die Mappen zu öffnen, schauten eine Weile,
bis Christof Drexel sich erhob, in die Küche ging und
einen überbrühten Tee brachte.
Der Blick aus dem Fenster des Zimmers, in dem wir uns immer aufhielten, befand sich gegenüber einer Rotbuche, ebenfalls alt und mächtig, deren Blätter, die im leichten Wind trieben und denen wir während des Tees unsere Aufmerksamkeit schenkten. Es war wie ein Konzert, dessen Klangkörper außerhalb des Raumes ertönte und unsere Anteilnahme forderte.
In diesem Sinne verstrichen Wochen, bis ich eines Tages
auf ein Selbstbildnis stieß, das mich persönlich sehr faszinierte. Ich fragte ganz spontan, was dies Blatt kosten solle? Christof Drexel überging meine Frage. Zuerst
wußte ich nicht, woran ich war. Doch dann akzeptierte ich
sein Schweigen und blätterte weiter. Es verstrichen wohl
einige Tage, bis eines Abends bei mir das Telefon klingelte, Christof Drexel dran war, sich für den späten Anruf
entschuldigend, und mir mitteilte, kurz und ohne Umschweife, dass er mir besagtes Selbstbildnis schenken wollte.
Er wünschte noch einen schönen Abend, und legte wieder auf.
Allmählich wurden wir miteinander vertraut. Christof
Drexel zeigte seine Freude, wenn ich kam, und wir den
"Ritus" wie Tage zuvor absolvierten. Ich kroch wieder unter die Couch usw.
Eines Tage fragte Christof Drexel unumwunden, ob
ich mir vorstellen könnte, sein künstlerisches Werk als Nachlassverwalter zu übernehmen? Ich hatte ihn als verbindliche Person kennen gelernt, weshalb sollte ich die
Frage nicht bejahen? Natürlich antwortete ich mit ja! Sein Antlitz nahm gelöste Zuge an, ja, fast heiter wurde die Stimmung. Auch bestimmte Ideen der Darstellung seines Werkes hatte er schon im Sinn.
"Sie kaufen sich am besten einen ausrangierten Bundeswehrtransporter, darein stellen Sie mobille Stellwände, mit diesen fahren Sie über die Märkte, laden die behängten Stellwände aus und verkaufen!"
Von der Idee war dies noch auf seine Zugehörigkeit zur
Novembergruppe im Berlin der zwanziger Jahre zurückzuführen. Kunst sollte für alle da sein, nicht nur für diejenigen, die das ästhetische und ökonomische Vermögen dafür besaßen.
Natürlich ahnte ich, welche Verantwortung mit dieser Aufgabe verbunden war. Es ging dann alles sehr schnell,
Christof Drexel bat eine Juristin im Hause, uns einen
entsprechenden Nachlassvertrag zu verfassen, den wir
einige Tage später im Beisein dieser Dame unterzeichneten.
In der Folge informierte er mich über seine Familienverhältnisse, die umfangreich und kontroverser Interressen waren, wie sich später herausstellte.
Fast verlegen erwähnte er auch, Doris Schmid, von der
Süddeutschen Zeitung, davon mitgeteilt zu haben, die
mich gerne einmal kennen lernen wollte.
Ich ahnte schon, dass meine Funktion nicht nur Zustimmung und Befürworter finden wird. Doch dies sollte mich
nicht beirren.
Ich nahm auch weiterhin die Besuche bei Christof Drexel
vor. Ließ mich über dies und jenes in Kenntnis setzen,
hauptsächlich über seine Studienjahre in Paris an der
Akademie Julian. Seinen Wohnsitz in Berlin, seine Geschäftsbeziehung zu Alfred Flechtheim und der Galerie Möller. Seine Freundschaft zu dem Kronprinzen Palaisdirektor Justi und dessen Assistenten Alfred Hentzen. Auch seine Zusammenarbeit mit Karl Ernst Osthaus in Hagen, der Gründung der Folkwangschule, des Folkwangmuseums. In dessen Folge Drexel von Matisse
und anderen Künstlern für das Museum Werke akquirierte. Auch die Sonderbund Ausstellungen, an denen er teilnahm, wurden Teil unserer Erörterungen.
Ebenso seine Reisen nach Norwegen, seine Begegnung
mit Edvard Munch, in dessen Atelier, und all den anderen
für ihn wichtigen Begegnungen und Freundschaften, berichtete er mir.
Dies ermöglichte mir allmählich, mich mit der Epoche
eingehender zu beschäftigen, Querbezüge in der Literatur, der Exiliteratur, der Autobiografie zu suchen.
Es war mir natürlich klar, dass ein künstlerischer Nachlass nichts für ein Archiv ist, sondern dass dieser selektiert auf seine öffentliche Darstellbarkeit gehört, mit dem lebendig umzugehen ist. Dies wurde dann auch das
Konzept meiner künftigen Arbeit damit.
Es vergingen nicht viele Wochen, in denen ich untätig blieb. Als ersten bat ich einen befreundeten Sammler
und Filmer, ein Film-Portrait mit mir von Christof Drexel
zu machen. Dieser verabredete sich zwar mit mir, um
dies zu realisieren, versetzte mich jedoch. Ausreichende
Mittel, dies mit einem professionellen Team durchzuführen, hatte ich nicht. Somit blieb das Thema einstweilen
nicht durchführbar.
Der nächste Schritt war, dass ich das Munch-Museum in Oslo anschrieb, und um eine Einzelausstellung des zum
Teil noch vorhanden Frühwerks von Christof Drexel nachsuchte. Und siehe da, ich bekam nach Wochen eine Zusage mit einem konkreten Ausstellungstermin im Jahre
1979.
Wie konnte ich Christof Drexel eine größere Freunde bereiten, als ihm das Schreiben des Munch- Museum aus-
zuhändigen.
"Wissen Sie, damit haben Sie mir die größte Ehre und
Freude als Maler bereitet!"
Für einen Moment war er fassungslos, die Tränen drangen ihm in die Augen.
Dies war meine Alternative zu seinem Vorschlag, auf
Jahrmärkten seine Arbeit feil zu bieten.
Um seine historische Rolle im Hagener Kreis um
Karl Ernst Osthaus, van der Velde, Thorn Pricker,
usw. für die Folkwangschule, das Folkwangmuseum,
aufzuzeigen -, das ja ursprünglich eine Privatinitiative von Karl Ernst Osthaus war, der ein Vermögen geerbt hatte, das nicht wieder zur materiellen Vermehrung eingesetzt werden sollte, sondern für reformpädagogische- und kulturelle Werte -, schwebte mir ein Symposion über Christof Drexel vor. Dabei sollte es um seinen gesamten Werdegang als Künstler, mit allen Querbezügen, seine Freundschaften zu Christian Rohlfs und dem Architekten Muthesius und anderen gehen. Außerdem um seine frühe Anerkennung als Künstler. Seine Ausstellungen u. a. im Kronprinzenpalais; den Villa Massimo Preis, und vieles mehr. War er doch eine Figur, deren Persönlichkeit und Wirken detailliert gewürdigt gehörte.
Es dauerte einige Wochen, die Referenten gefunden zu haben, um das Symposion zu Werk und Person im Stadtmuseum München durchzuführen. Begleitet wurde dies, durch eine Selbstbildnisausstellung, die1914 einsetzte und drei Tage vor seinem Tod, 1979 endete. Fünf Referenten trugen Ihre Vorträge zu Christof Drexel vor und beantworteten nachher Fragen des Publikums. Flankiert wurde dies noch durch die Filme "Maske & Gesicht", von Christof Drexel, und einer Filmdokumentation zu seiner Methode, die er im ersten Weltkrieg, im Lazarett mit erblindeten Armeeangehörigen, praktizierte, "Chorisches Zeichnen". Wie schon der Name sagt, handelt es sich dabei um eine Methode, auf große Papierbahnen an der Wand, aus dem Radius der Arme, rhythmische Linien zu zeichnen.
Außerdem zeigte ich ein Filmportrait des BR über Christof Drexel; zum Schluss deklamierte er noch von
einer Toncassette sein Gedicht über den Tod. Damit
endete das Symposion.
Es dauerte nicht lange, bis ich eines Tages einen Anruf
von dem Hausarzt erhielt, dass es Christof Drexel nicht
gut ginge und mit seinem baldigen Tod zu rechnen sei. Ich eilte in seine Wohnung, indes hatte sich ein Großteil
der Familie eingefunden. Da die Wenigsten mich kannten, allenfalls von mir gehört hatten, war die Reserviertheit entsprechend.
Christof Drexel auf der Couch, neben ihm sein jüngster Sohn, ebenfalls Maler, der in Paris lebte.
Soviel ich vernahm, erzählte Christof Drexel in Intervallen, bei denen er wiederholt zur Seite nickte, seinem Sohn von der Erbauung des Eifelturms, zu dessen Zeit
er in Paris auf die Akademie ging.
Nachdem ich sah, dass die Familie mit ihm alleine sein wollte, entschloss ich mich, wieder zu gehen und den Anruf abzuwarten, zu dem mir mitgeteilt wurde, dass
Christof Drexel verstorben sei.
Als ich benachrichtigt wurde, begab ich mich erneut in
die Wohnung Christof Drexels. Geradezu ein Menschenpulk empfing mich. Zehn Kinder aus drei Ehen, ehemalige Ehefrauen, eine Ehefrau, die getrennt von ihm
lebte; Enkel, Verwandte und wer auch sonst noch gerade seine Aufwartung machte.
Christof Drexel auf der Couch liegend, die Hände gefaltet.
Blumen ringsumher, brennende Kerzen, ein Lichtermeer.
Inmitten dieser bunten Trauergesellschaft buhlte ein mittelgroßer Herr, Sombreo auf dem Kopf, unter wallenden weißen Haaren, die Weste verzurrt um seine Brust.
Namens Hugo Kückelhaus, seines Zeichens Philosoph,
Allroundkünstler und Vortragender, der mit kleinem Pappkoffer durch die Lande zog und seine Vorträge hielt. Hier
nun in seiner Eigenschaft als Freund, Grabredner, wie sich später herausstellte. Westfälisch nasalierend, sprach
er mich an, nachdem ich ihm die Hand gereicht hatte.
Natürlich mit dem Unterton, ob ich mir der Bedeutung des
Künstlers, dessen Nachlass ich nun inne habe, bewusst
wäre? Ich hatte große Lust, zu sagen: "Wollen Sie nicht,
statt meiner, die Aufgabe übernehmen?"
Bestimmt fühlten sich viele der Anwesenden übergangen,
dass ihnen nicht die Aufgabe zuteil wurde.
Doch die Aufgabe war nichts für eine Haltung der Pietät,
sondern eine Aufgabe, die Durchsetzungsvermögen, Organisationsvermögen, Weitsicht und eine große Vertrautheit mit dem Werk und den Intentionen des Künstlers erforderte.
In aller Eile organisierte ich zwei Studenten der Filmhochschule, mit dem Auftrag, bei Ari ein Filmequipment zu mieten und zwei Tage später, die Totenrede von Hugo
Kückelhaus und die Bestattung aufzuzeichnen. Für die
Kosten händigte ich ihnen einen Scheck aus. Auf ein Honorar verzichteten die beiden. Gedankt sei ihnen beiden!
Die Bestattung war lebhaft besucht. Einige waren mir
durch die Erzählung Christof Drexels bekannt. Jedoch
die Mehrzahl der Trauergäste nicht.
Den Sohn von Reinhard Piper entdeckte ich, auch nur
deshalb, weil ich ihm ein sehr gelungenes Portrait seines
Vaters, von Christof Drexel, angeboten hatte. Reinhard
Piper und Christof Drexel verband eine jahrelange Freundschaft.
Sobald Christof Drexel bestattet war, änderte sich der
Ton der Verwandtschaft mir gegenüber. Zuerst erhielt ich
ein Anwaltsschreiben, dessen Tenor, im Namen der Erben, ein Widerruf des mit Christof Drexel geschlossenen
Vertrages zum Inhalt hatte. Glücklicherweise hatte die Anwältin, die den Vertrag zwischen Christof Drexel und
mir abgefasst hatte, zum Zeichen der Seriosität, mitunterzeichnet, so dass mir kein unlauterer Umgang unterstellt
werden konnte. Dieser Schachzug ging ins Leere. Die
nächste Unverschämtheit bestand darin, dass mir die
Witwe den Raum kündigte, in dem der gesamte Nachlass
von mir unterbracht war. Dies hatte zur Folge, unmittelbar
einen Raum zu finden, der musealem Standart entsprach; dies hieß kurzfristig, alle Register zu ziehen, um
diesem Problem Herr zu werden.
Christof Drexel war seit dem Ende des Krieges in Bayern
ansässig. Ausstellungen in verschieden öfentlichen Institutionen, wie z. B. der Lenbachgalerie, konnte er vorweisen.
Somit lag es auf der Hand, dass ich die Stadt München,
in kulturellen Dingen vertreten durch das Kultureferat,
hier insbesondere durch den Kultureferenten, Dr. Jürgen Kolbe, anging. An den ich unvermittelt in der Sache herantrat. Anfänglich zögerlich, erklärte er sich allmählich zu einem Agreement bereit.
Man gestand mir zu, den Nachlass Christof Drexels ins
Depot des Stadtmuseum zu verbringen, zu dem ich während der üblichen Geschäftszeiten Zugang hätte. Nun im guten Glauben, der Last kurzfristtig entledigt zu sein, engagierte ich ein Fuhrunternehmen, mit dem ich den Nachlass Christof Drexels ins Depot des städtischen Museums verbringen ließ. Das heißt, ich schleppte gemeinsam mit dem Fuhrunternehmer die Bilder auf Leinwand und Hartfaserplatten, nebst den Mappen mit den Papierarbeiten aus der Wohnung, um diese an-
schließend wieder im Hof des Depots zu entladen und an die angegebene Stelle zu verbringen. Ein stundenwährender Vorgang. Indessen war es darüber Nacht geworden, als die letzte Fuhre im Hof des Depots verbracht war. Inzwischen war ich erschöpft und müde. Plötzlich stellte sich vor den Lastwagen, ein kleiner, wammerlbäuchiger Mensch, mittleren Alters, mit den
Händen gestikulierend. Ich sprang aus dem Führerhaus,
des Fahrzeuges, fragte was das solle?!
Ja, er käme vom Kulturreferat, dessen Justitiar er sei, die Einlagerugsverabredung sei aufgehoben!
Ich reagierte sehr unwirsch: "Er solle sich gefälligst aus dem Wege machen!"
Dies hatte tatsächlich zur Folge, dass er sich davon machte. Es vergingen einige Tage, und ich bekam Post vom Kultureferat, mit der Bitte, einen persönlichen Termin am Soundsovielten wahrzunehmen. Mir schwante schon, dass dies mit dem nächtlichen Auftritt dieser Person zu tun hatte.
Zu dem angegebenen Termin nahm ich mir eine Person
meines Vertrauens mit, damit ich nicht mit unlauteren
Methoden, über den Tisch gezogen wurde.
Hier saß nun die versammelte Mannschaft der Claqueure um den Kultureferenten.
Mit entsprechendem Pathos, teilte man mit, dass die Verbringung des Nachlasses des Künstlers Christof Drexel
nur vorübergehend gemeint sei und darüber eine befristete, schriftliche, neue Vereinbarung, getroffen werden müsste.
Ich frage verwundert, weshalb eine neue Vereinbarung?
Dies läge in der Natur der Sache, schließlich wolle man
keinem Wiederholungsfall Vorschub leisten, usw.
Es blieb mir nichts anderen übrig, als dem Vertrag zuzustimmen. Demzufolge hatte ich den Nachlass binnen eines Vierteljahres wieder zu verbringen.
Dies stellte mich erst einmal vor eine neue Situation.
Da ich bislang alle anderen Probleme gelöst hatte,
traute ich mir auch diese zu lösen zu.
Indessen stand die Frage im Raum, wen nimmst du für
die Werkbetrachtung des Kataloges für das Munch-Museum von deutscher Seite? Zuerst kam mir der ehemalige Leiter der graphischen Sammlung in München Dr. Degenhard in den Sinn. Doch dieser sagte ab, weil er sich indessen mit der Renaissance-Zeichnung beschäftigte. Empfahl mir jedoch Dr. Rike Wankmüller, die Kuratorin des Kunstbesitzes der Bundesrepublik Deutschland, die ganz unprätentiös vorbeikam, sich die Arbeiten Christof Drexels ansah und zusagte.
Inzwischen kam auch der Kurator des Munch-Museum,
Arne Egum, inspizierte die von mir vorgeschlagenen Exponate und war damit einverstanden. Auch Arne Eggum verfasste einen Katalogtext zu den Arbeiten Christof Drexels.
So fand 1979 mit großem gesellschaftlichen Aplomb, in
Oslo, die Christof Drexel-Ausstellung im Edvard Munch Museum statt.
Den nächsten Schritt wollte ich mit Christof Drexel in
Amerika machen. Zu diesem Zweck, engagierte ich eine
Schreibkraft, die einen von mir vorformulierten Text im
Hinblick auf ein Werkverzeichnis, für das ich in Amerika,
Exponate suchte, tippte, und an Presseorgane in den
USA, als Pressemeldung verschickte. Zu meiner Verwunderung, kam Post von der Universität von Yale. Das kunshistorische Departement hatte eine Stiftung und deren Bilder, Skulpturen, usw. namens Societe Anonym vererbt bekommen, die von Katrin Dreier und Marcel Duchamp Anfang der zwanziger Jahre gegründet wurde, um für das amerikanische Publikum, europäische Avandgardekunst zu erwerben. Nun schrieb der Fakultätsleiter, dass im Fundus dieser Stiftung, zwei Bilder von Christof Drexel existierten, die in der Galerie Flechtheim, Anfang der zwanziger Jahre erworben wurden.
Werkfotos lagen bei. Damit war mein Weg, den ich für Christof Drexel in den USA und Südamerika versuchen wollte, ausreichend fundiert. Der nächste Schritt bestand darin, dreihundert Briefanfragen an amerikanische und
südamerikanische Museen zu verschicken, ob sie interessiert sind, an einer Wanderausstellung des Werks Christof Drexels teilzunehmen. Die kommenden zwei Monate brachten eine Flut von Antwortschreiben. Unter diesen waren Zusagen, die sich allmählich auf zweiundzwanzig Museen erstreckten.
Nunmehr stand die Frage der Finanzierung bevor. Eine
Wanderausstellung in diesem Umfang, hatte es bis dato
nicht gegeben. Versuche, von öffentlichen Häuser noch
Frühwerke Christof Drexels zu erhalten, wurden abgelehnt, zumal ihnen die südamerikanischen Museen
durch Ausleihe nicht bekannt waren. So blieb mir nichts
anderes übrig, als ausschließlich aus dem Nachlassfundus die Ausstellungskollektion zu bestücken.
Während des Symposions zu Werk und Person 1979, von Christof Drexel, stellte sich mir der Ausstellungsreferent
der Hauptverwaltung des Goethe Institutes vor. Im Verlauf des kurzen Gespräches, erwähnte dieser, dass sein
Haus, zu diesem Zeitpunkt stand schon die Ausstellung
von Christof Drexel im Munch-Museum fest, künftig für
etwaige Transport- und Katalogkosten aufkommen würden. Natürlich ahnten die Verantwortlichen vom Goethe-Institut nicht, dass ich mit einer so umfangreichen Wanderausstellung vorstellig werden würde.
Meine bisherigen Aktivitäten wurden seitens des Goethe-Institutes weitgehend übernommen, doch kulturelle Aktivitäten im Ausland, durch mich, stellten natürlich eine parallele "Institution" dar. Dies konnte in dieser Weise nicht unterstützt werden, zumindest nicht in den Köpfen der Referenten des Goethe-Institutes. Dies war eine schwierige Situation, um dies als ihre Organisation aussehen zu lassen. Deshalb schrieben sie sämtliche Museen, wieder an, die eine Beteiligung zugesagt hatten, damit ihnen eine Legimitation gegeben war, Mittel in Höhe von einer halben Million dafür aufzubringen. Nachdem das Goethe Institut die Zusammenarbeit bestätigte, unterbreitete ich ihnen einen Ausstellungsver-
trag, der die Haftung für die Exponate übertrug, bzw. sie der Versicherungspflicht, der sie für die Übernahme der Kosten für den Lufttransport in die Verantwortung nahm.
Schließlich sollte die Kollektion drei Jahre unterwegs
sein und innerhalb der Länder koordiniert werden. Diese
Aufgabe wurde vom Bostoner Goethe Institut übernommen, dessen damaliger Direktor, Dr. Gerhard Kirchhoff,
dies fast geräuschlos zuwege brachte. Es sei ihm an dieser Stelle nochmals ausdrücklich gedankt.
Für den Ausstellungskatalog bat ich um Texte von Paul
Vogt, Direktor des Folkwangmuseum, Essen. Von Dr. Rike Wankmüller, s. wie zuvor erwähnt. Dr. Alfred Hentzen, vormals Direktor der Hamburger Kunsthalle.
Hugo Kückelhaus, s. wie zuvor erwähnt. (Kataloge des
Munch-Museum, der Wanderausstellung durch Nord-
und Südamerika, befinden sich im Fundus des Deutschen Kunstarchivs).
Ich erstellte noch eine Bibliografie für den Katalog und
versuchte, entsprechend der Exponate, einen anschaulichen Katalog zu konzipieren.
Nachdem die Ausstellungskollektion von fünfundsechzig
Exponaten gut gesichert und in fachgerechten Überseekisten verpackt war, musste ich sie ihrem kommenden
Schicksal überlassen.
Von der ersten Station, nämlich Bogota, bekam ich freudige Nachricht. Innerhalb von drei Wochen besuchten die Ausstellung vierzehntausend Besucher. Ganzseitige Besprechungen in den Tageszeitungen weckten das Interesse. So hatte Christof Drexel unerwarteten Erfolg.
Inzwischen begann ich zunehmend, Museen in unseren
Breiten mit dem Werk zu konfrontieren, in der Hoffnung,
Werke von ihm unterzubringen. Mitunter gelang dies auch. Z. B. erwarb die Lenbachgalerie mehre frühe Arbeiten auf Papier, aus dem Christus Zyklus, ebenso das
Germanische Nationalmuseum. Verschiedene Sammler,
die ich dafür begeistern konnte, erwarben Arbeiten.
So entwickelte sich allmählich eine Sammlerschicht, die
Gefallen an den Arbeiten Christof Drexels fand.
Leider war fast sein gesamtes Frühwerk bei einem Bombardement auf Berlin-Lichterfelde, wo sein Atelier sich
zu diesem Zeitpunkt befand, verloren gegangen. An
anderen Orten infolge des II Weltkrieges, so dass meine
weiteren Aktivitäten beschränkt waren.
Das übrige Nachkriegswerk hatte figurinen, linienhaften Charakter, die zumeist auf großen Papierbögen sich befanden, das mich künstlerisch nicht sehr überzeugte. Ebenso gab es viele Landschaftsstudien in Tusche- und
Mischtechnik auf Papier, die ich zum Ausstellen nicht unbedingt vorsehen wollte. Wohingegen das Selbstbildniswerk, das von den frühesten Anfängen bis kurz vor seinem Tod reichte, einzigartig war. Für das in den europäischen Museen zu diesem Zeitpunkt noch kein Interesse bestand. Und die "Formen des Menschseins", seiner letzten Hervorbringung, waren auch keine öffentlichen Insti-
tutionen im deutschen Raum zu begeistern. In gewisser Weise nahm dieser Zyklus die jungen Wilden vorweg.
Von der Wanderausstellung in Süd- und Nordamerika
vernahm ich immer wieder positive Rückmeldungen. Ansonsten lief die Ausstellung fast geräuschlos ab.
Bis eines Tages mich der Spediteur anrief, und mir mitteilte, dass die Bilder Christof Drexels auf dem Weg von
Süd- nach Nordamerika verloren gegangen sind. Ich
musste erst einmal tief durchatmen, um die Tragweite
zu ermessen. Der materielle Schaden war durch die Versicherung abgedeckt. Doch der ideelle Verlust, gerade des Frühwerks, von dem nur noch wenige Exponate vorhanden waren, war beträchtlich. Ich überlegte, wie ich den Erben dies unterbreiten sollte. Mit anderen Worten, ich war ziemlich mit dem Latein am Ende.
Es vergingen etwa zwei Wochen, der Spediteur rief wieder an, diesmal mit einer freudigen Nachricht: die Transportkisten hatten auf dem Flughafen von Mexiko Stadt
eine neue Frachtnummer bekommen, gesucht wurde jedoch unter der alten Frachtnummer, dadurch entstand
das Malheur. Ein schwerer Stein fiel mir vom Herzen.
Indes begann ich mich für andere Nachlasse zu interessieren z. B. für den Nachlass von Josef Fassbender,
Wladimir von Zabotin, Mansurroff, Inda Kerkovius, Ahlers
Hesterman, Marga Moll, Erich Bucholz, Conrad Westfahl und viele andere mehr.
Von Zeit zu Zeit empfing ich Sammler, Museumskuratoren, sogar Peter Nisbet, vom Busch-Reisinger Museum in Boston, die Gefallen am Werk Christof Drexels fanden.
Nach Ende der Ausstellungstournee, standen dreizehn
Überseekisten auf meinem Grundstück. Die Exponate
verbrachte ich ins Lager. Die Kisten demontierte ich Stück
um Stück oder verschenkte sie an andere Künstler.
Von der Witwe hörte ich, dass sie nach Ablauf des Vertrages den Nachlass übernehmen wollte, keine Verlängerung vorsah. Damit war Christof Drexels künstlerisches Vermächtnis ein für alle mal besiegelt.
Besuch bei Bernhard und Ursula Schulze
Durch die Zen-Gruppe stieß ich auf die Quadriga-Gruppe, zu der auch Bernhard Schulze gehörte, die gemeinsam in Deutschland das Feld für die Abstraktion ebnete. Das Geschrei dagegen war groß, nicht nur weil wirtschaftliche Interessen des Kunsthandels dagegen standen, sondern weil das Dritte Reich mit seiner perfiden Kunstdoktrin noch immer im Denken der Nachkriegsjahre vorhanden war, das jede natürliche Entwicklung auf lange Zeit behinderte.
Nun gerierte sich ein Häuflein Mutiger, ihre eigene Weltsicht künstlerisch zu transformieren.
Kriegsheimkehrer allesamt, von grauenvollsten Erfahrungen gezeichnet, zwangsrekrutiert, als
Kinder dieser Nation.
Ihre Hinwendung zur Kunst, zur Literatur kam nachher einer Selbsttherapie gleich, denn niemand fragte
sie, ob sie mit dem Erlebten Probleme hatten.
Man vergegenwärtige sich die beklemmenden Texte
der Nachkriegsliteratur, aus der häufig die Stimmen
der Verlorenen sprachen, die verfolgt von dem Erlebten
wie im Eiltempo nach einer neuen, ihrer Realität sucht-
en, um des Rettungsankers willen. Ähnlich erging es den Malern, wahrscheinlich all denen, die keine literarische oder künstlerische Stimme hatten, die über
den grauenvollen Abgrund nach einer Stimme der Unbeflecktheit, der Transformation suchten.
Ich hatte noch nicht lange bei Bernhard und Ursula Schulze Platz genommen, als Bernhard Schulze ganz
von selbst davon sprach. Den Verlust an Identität, den diese Generation erleiden
musste, um nachher wieder in einer neu definierten
gesellschaftlichen Form Bürger ohne "Verzagtheit" und "Vergangenheit" zu sein, war ungeheuerlich. Die Verdrängung war zugleich die Lebenslüge, aus der eine gesellschaftlich geläuterte Gemeinschaft, der Jetzigen, hervorgehen sollte.
Bernhard Schulze sprach von Jean Paul, mit dem er sich
jetzt vermehrt beschäftige.
Sprach von dem Einfluss Jean Paul auf die deutsche Romantik, deren Nachbote seine Bilder und die Migof-Objekte seien. Sprach von Altdorfer als Anreger.
Sprach von den zur Zwangsarbeit abtransportierten
Juden, die er aus der Kolonne, die an die Ostfront abkommandiert war, in Polen, in einer erbärmlichen Verfassung, wahrnahm. Sprach davon, wie ihm ein Kamerad flüsternd ins Ohr sagte: "Du, die machen Seife aus denen!"
Auch Bernhard Schulze war zu dem Zeitpunkt ein junger
Bursche, die Dimension Krieg, Vernichtung der Juden und den Abgrund, begriff er erst, als das Elend vor
Stalingrad unausweichlich vor ihm stand.
Hier fand die Expansion des Wahnsinns statt. Hierfür gab
es keine Worte mehr. Für jeden Zentimeter Landgewinn floss Blut in Strömen! Das Leben hatte jeden Wert verloren. Und es war kein Entkommen! Tag und Nacht die Hölle. Auch ohne den unmittelbaren Tod, war dieser allgegenwärtig.
Als hätte es die Vorsehung so gewollt, Bernhard Schulze bekommt TB, wird in ein Lazarett verlegt, ergreift kurz vor seiner endgültigen Genesung die Flucht. Versteckt sich im elterlichen Landhaus an der Ostsee; malt auf schwarze Verdunkelungspapiere, die vor Fliegerangriffen vor die Fenster gespannt wurden und vor möglichem Bombardement schützen sollen.
Vom Ende des Dritten Reiches hat er nur eine Ahnung, dass dieses wirklich eintreten würde, war ungewiss.
Ich unterbreche Berhard Schulze in seinen Schilderungen
und erwähnte, dass ich gerne einmal ihren Werkfundus ansehen möchte. Bernhard Schulze führt in den Flur.
Hier finden sich in Petersburger Hängung Geschenke
von Malerfreunden: Max Ernst, sticht besonders hervor.
Plötzlich tritt Ursula Schulze in den Flur. Fragend schaut
sie Bernhard an.
"Herr Götze möchte unseren Werkfundus sehen!"
"Bitte!"
Bernhard Schulze führt mich eine Etage tiefer.
Hier offenbart sich die Schatzkammer der beiden:
eine Mehrzimmerwohnung voller Werke als Lager.
Ich werfe hier und da einen Blick und schon sind wir wieder auf der Treppe in die darüberliegende Atelierwohnung.
Bernhard Schulze spricht vom allgemeinen Trümmerfeld
der Zeit, in dem zu leben, mit vielen Improvisationen verbunden war. In Frankfurt formierte sich dann die Gruppe Quadriga, mit K. O. Götz, Otto Greis, Heinz Kreuz, Bernhard Schulze.
Ursula Schulze-Blum, die gerade anvermählte Gattin,
organisiert im Frankfurter Amerika-Haus Vorträge, womit ein wenig Geld in die Haushaltskasse kommt.
Bildverkäufe sind in dieser Zeit kaum möglich, wenn ja,
dann zu Preisen, die eher einem Geschenk gleichen.Trotz allem, der weitere Lebensweg ist für Bernhard
Schulze klar bestimmt.
So beginnt ein Nachkriegsleben mit Wagemut. Ich beschließe, das Portrait über Bernhard und Ursula
Schulze gänzlich auf einer O-Tonversion aufzubauen.
Als positive Voraussetzung ist bei beiden der Mitteilungsdrang, so dass ich keine Fragen einfügen muss.
Von beiden vernehme ich Schilderungen, die nicht atypisch sind. Sondern einer eigenen Lebensauffassung, eines persönlichen Erfahrungsschatzes entsprechen, der
in seiner zeitgeschichtlichen Dimension für diese Gene-
ration zum Lebensbild geworden ist.
Bei Bernhard Schulze ist der Tenor ein Kaleidoskop: bei
Ursula Schulze-Blum eher poetisch-irrational. Sie spricht von ihren Metamorphosen, geträumt oder real empfunden, einerlei, ihrer Welt, die sie auch bildnerisch in
Sphären führt, bei der der Mikrokosmos plastische
Formen sucht: schrill, lasziv und undeutbar: ein Phänomen des Traumes.
Auch bei Bernhard Schulze ist es die Sphäre des Numinosen. Seine Bilder blühen in einer Unendlichkeit, wie
Wellenformationen, dabei hinterlassen sie Bukette von
Farbarabesken, die das Bukolische umwerben.
Je mehr ich mich in die Bild und Figurenwelt von Ursula
und Bernhard Schulze vertiefe, ihre Erfahrungen mit
dem Krieg, der Vertreibung, dem Genozid, dem Wandel von einem politisches System in ein anderes beschäftige, desto mehr gerate ich in Zweifel, ob das künstlerische Credo im Wechsel der politischen Verhältnisse bestehen kann.
Bei Emil Schumacher
Mitte der neunziger Jahre verabredete ich mit Emil Schumacher ein Interview.
Zu diesem Zweck besuchte ich ihn in seinem Elternhaus in Hagen, das Wohnstätte und Atelier war.
An dem vereinbarten Tage stand ich nun vor der Haustüre. Das Haus eines von vielen gleichen, in einer engen und ansteigenden Gasse.
Als ich dem Taxifahrer am Bahnhof die Straße nannte,
erwiderte dieser, "Prof. Schumacher", demnach war ich
nicht der Einzige, der seine Dienste in Anspruch nahm, um zu Emil Schumacher zu gelangen.
Nachdem ich die Klingel betätigt hatte, näherten sich Schritte die Treppe herabkommend.
Eigentlich hatte ich Emil Schumacher erwartet, nein er
war es nicht; stattdessen seine Schwägerin, wie ich sogleich erfuhr.
Das Stiegenhaus schmal und steil, gerade für eine Person ausreichend. Besagte Schwägerin schritt voran. Oben trat sie unvermittelt zur Seite, um dem Meister Platz zu machen. Dieser stand am Ende der Treppe. Weißes Hemd, graue Tuchhose, Marke Boss, lächelnd, mir die Hand entgegenstreckend.
Im Hintergrund ruhten einige afrikanische Artefakte,
stumme Hausgeister, die die Anwesenheit der Toten
symbolisierten.
Nachdem Emil Schumacher meine Hand eine Weile
durchgeschüttelt hatte, trat die Gemahlin hinzu. Auch sie
erwies meiner Hand und Anwesenheit einen Willkommsgruß. Mächtig von Statur, westfälisch, mit Seidenbluse,
und Geschmeide.
Links, wie ich sah, war schon der Kaffeetisch gedeckt. Gehobenes Blumenservice mit Goldrand und passenden Löffelchen. Mittig zwei flache Teller mit Kuchenschnitten,
die um der Anzahl willen halbiert waren.
Die Atmosphäre erwies der Verlegenheit alle Ehre. Nachdem der Kaffee seinen aromatischen Geruch verbreitete, wurde durch die Gastgeber gefragt, welcher Kuchen meinem Geschmack entspräche.
Die Frage Frau Schumachers konterkarierte jedoch besagte Schwägerin, indem sie fragte, welcher Kuchen nun der Gestrige sei?!
Ich hatte meine Ohren gerade taub gestellt, so dass die
Verlegenheit, ob dieses Fauxpas alsbald verflog.
Geflissentlich wurde über den Unterschied des Wohnortes parliert, dabei allgemein feststellend, dass die Provinz eine Frage der Selbsteinschätzung sei.
Je mehr sich Frau Schumacher über Ihren Teller beugte,
desto mehr vermischte sich das Eau de Cologne mit dem
Kaffeeduft, zu Eau de Cologne de Tschibo.
Allmählich geriet ich ins Schwitzen, und wie ich sah, ähnlich dem Meister. Also verständigten wir uns eines Blickes und entschuldigten uns bei den Damen.
Die Sitzecke, wenige Schritte entfernt, schwere mattbraune Ledersessel, luden zum Verweilen.
Emil Schumacher begab sich statt meiner auf die Couch. Hager von Statur; verlegenes Gesicht, den Blick umherschweifend.
"Ach, gut dass Sie es erwähnen, abstrakte Bilder kenne ich in meinem Ausdruck nicht: Jedes Bild verkörpert doch eine Persona, ein Gegenüber! Wie kann ich da von einem Ungegenständlichen Bild sprechen!"
In diesem Tenor fand das eine das andere. Im Verhältnis
persönlicher Standpunkt und Feststellung, als dessen Vermächtnis ließ es nichts vermissen.
An der Rückwand aufgerichtet, verschiedene LPs, deutsche Romantik. Keine Aleatorik, kein Rock oder Blues.
Wo befand sich die Gegenwart Emil Schumachers?
Die Perser, auf denen unsere Füße ruhten, die Ikonen,
die mich seitwärts anstarrten. Waren sie der Stoff für
seine Bilder?
Allmählich gewann ich den Eindruck, die Vergangenheit ist die Säule der Gegenwart Emil Schumachers.
Wiederholt trat die Dame des Hauses zu uns hin, um sofort wieder ihre Abwesenheit zu bekunden.
Nunmehr stand die Begehung des Ateliers zur Debatte.
Gleich rechts der Kaffeeanrichte. Drei Holzstufen hoch,
die kategorisch nur mit Hollandpantinen zu betreten waren. Durchgängige Frontschreibe, hinter der die Farbsudelei des Fußbodens, der Wände sich allegorisierte. An der Brandmauer der schützende Ruhepunkt der Staffelei samt Leinwand.
Emil Schumacher beugte sich liebevoll zu ihr hin, die
Schichten aufzeigend, die die Struktur seiner Bilder
kenntlich machte.
Anschließend musste noch ein früher Kricke im Garten
hinter dem Haus begutachtet werden, der seine zarten
Glieder im leichten Luftzug des Abends bewegte.
Last but not Least wurde noch vor einer Leinwand zum
Gruppenfoto gebeten.
"Wie lange dauert Ihre Rückreise?"
"Fünfeinhalbstunden, oh, la, la! Da haben Sie noch was
vor; na dann, gute Heimfahrt"!
Nochmals schüttelten wir gegenseitig die Hände. Der
Taxifahrer klingelte indessen. Adieu, Emil Schumacher!
Bei Eberhard Steneberg
auf der Suche nach Wladimir von Zabotin
Wladimir von Zabotins Bilder hatten es mir angetan. Ich forschte nach dem Nachlass und bekam aus einer mir bis dato unbekannten Quelle, den Hinweis, in Frankfurt/Main nach seiner Tochter zu suchen. Diese fand ich verheiratet mit dem Maler, Publizisten und Freund vieler russischer Emigraten in Europa, ob sie nun Goncharova, Puni, Mansuroff oder wie auch immer hießen, Eberhard Steneberg. Mit anderen Worten, ich stieß in ein historisches Wespennest.Die Türe öffnete mir eine mittelgroße, untersetzte Person, der noch immer die Melodik der russischen Sprache eigen war. Offenheit und Gastfreundschaft war ein unverkennbares Merkmal des Hauses. Larinov grüßte mit einer suprematistischen Leinwand und verzückte den Besucher. Auch Goncharova, die mit Larinov nach der russischen Revolution nach Paris geflüchtet war, hing nicht weit entfernt und bildete das Gleichnis.
Ich wurde zu Tisch gebeten, und musste mir eingestehen, dass ich die Stenebergs schon länger kannte, durch die profunde Publikation von Eberhard Steneberg "Die russische Kunst in Berlin 1919 - 1932", ohne zu ahnen, hier auf die Quelle von Wladimir von Zabotin zu stoßen. Unsere Begegnung war sofort von gleichem Interesse bestimmt, so dass eine Beschwingtheit, eine Leichtigkeit und Vertrautheit ihr Tenor wurde.
Eberhard Steneberg schleppte mehrere Leitzordner an, in denen die Korrespondenz mit all den exilierten Künstlern verwahrt wurde. Häufig waren sie illustriert und begannen mit "Mon cher Eberhard!", der persönlichen Wertschätzung der russischen Künstler, die nach Paris aufgebrochen waren. In ihm fanden sie einen Freund und Chronisten der russischen Avantgarde des frühen 20. Jahr hunderts. Wie ich nun sah, entsprach Eberhard Steneberg auch gänzlich dieser Erwartung: groß, wach, schlank, ein introvertierter Künstler-Interlektueller, der am zufriedensten war, wenn ihn niemand bei seinem neigungsvollen Tun beeinträchtigte.
Das Gespräch umfasste plötzlich ein Dreivierteljahrhundert Kunst, Politk, Schriftum und Erinnerung wechselten sich in Intervallen ab. Nachdem es zur besseren Verdauung des Mahles noch einen türkischen Kaffee gab, stiegen wir ein Stockwerk höher ins Atelier des Künstlers Eberhard Steneberg.
Als ich die Bilder Eberhard Stenebergs sah, hatte ich zuerst an Piranesis Architekturvisionen gedacht. Dies verflüchtigte sich jedoch sofort wieder, wobei axiale und vertikale Farbbalken in einem vitalen Prozess Nähe und Abstand suchten, jedoch korrespondierend im Klang und in der Tektonik blieben.
Gleich beschlich mich die Befürchtung, wer soll sich für all diese künstlerischen Emanationen interessieren? Als Zeugnis der Zeit sind sie unabdingbar, doch wenn man bedenkt, dass die Gesellschaft, gleich welcher Nation, nicht immer reif ist, die künstlerische Gegenwart zu entdecken, an sich heranzulassen, dann wird die Hervorvorbringung für die Künstler zum dauernden Selbstgespräch und nicht zum Dialog. Wie sich allmählich herausstellte, war der Nachlass von Wladimir von Zabotin durch sein bewegtes Leben zum Teil in Russland, zum Teil in Amerika, und zum Teil in Karlsruhe verblieben. Eine genaue Übersicht war nicht vorhanden, so dass keine präzisen Informationen zu ermitteln waren.
Die Gastfreundschaft hatte sowieso meinen Vorsatz absorbiert, so dass mein ursprüngliches Anliegen immer mehr in den Hintergrund trat. Zur Bekräftigung der Begegnung, beschloss ich, noch einen Grand Cru in einer nahen Weinhandlung zu holen. Der Vorschlag rief Begeisterung hervor. Also machte ich mich rasch auf, um der Begegnung noch eine Krönung zu verleihen.
Stenebergs hatten indessen auf der dem Atelier vorgegerichteten Terrasse einige Stühle und einen kleinen Tisch bereit gestellt, an dem auf die Begegnung und die gemeinsamen Interessen angestoßen wurde. Der laue Frühlingstag gestattete dem Blick über die Dächer in die Ferne zu schweifen. Untermalt durch die lebhaften Schilderungen Eberhard Stenebergs, der von seinen Besuchen bei den russischen Emigranten in Paris und den ausgiebigen Seancen erzählte.
Begleitet wurde dies, von dem eindringlichen Gezwitscher der Amseln, die der Jahreszeit ihre Beglückung bekundeten. Ich genoss die Atmosphäre, verwoben mit der Erinnerung an Frankfurt, wo ich Anfang der 60er Jahre viele Jugendjahre verbrachte, ohne das Empfinden gehabt zu haben, heimisch geworden zu sein.
Die Flasche neigte sich allmählich ihrem Ende zu. Der allgemeine Redefluss überkreuzte sich zunehmend. Meine Abfahrt kam mir plötzlich wieder ins Gedächtnis, so dass ich darauf hinwies, sie beide bald verlassen zu müssen. Worauf Eberhard Steneberg kurz verschwand und mit einem kleinen Gastgeschenk zurück kam. Ich bedankte mich für die schöne und anregende Begegnung und fuhr mit dem Lift zum Ausgang des Hauses, wo mich ein Taxi zum Bahnhof beförderte. Der freundschaftliche Kontakt währte noch Jahre, bis zum Tode Eberhard Stenebergs.
Wegen WOLS bei Werner Haftmann in Gmund
Die Touristen in Gmund sind an diesem Nachmittag kaum sichtbar, lediglich oberbayrische, traditionelle Architektur: überladene Blumenkübel, die über der Balkonbrüstung hängen. Sofort stellt sich das Verlangen ein, zum Kaffeekränzchen unterwegs zu sein.Nein, nein, muss ich mich ermahnen!
Schon zuvor hatte ich WOLS halber brieflich mit Werner Haftmann Kontakt, der ihm die erste Museumsausstellung in der Berliner Neuen Nationalgalerie ausrichtete, WOLS damit die Ehre erwies, da dies doch sein Geburtsland ist, auch wenn diese Nation nicht in seinem Sinne war und von ihm keine Notiz nahm.
Die Nation war noch immer geprägt von ihrer unmittelbaren NS-Vergangenheit. Da wurde nun das Werk eines verstorbenen deutschen Emigranten aus Paris gezeigt: große Verwunderung und Bewunderung.
Und dies alles hatte dieser WOLS in seinem ganz kurzen Leben vollbracht? Zumeist in Stundenhotels, im Bett liegend, mit den primitivsten Malutensilien, auf kleinen Papieren. Wäre nicht immer wieder die Gunst der Stunde gewesen oder Grety, die Lebensgefährtin und spätere Ehefrau oder Dr. med. Dausset, dessen Frau eine kleine avantgardistische Galerie in Paris hatte. Wären später nicht J. P. Sartre, seine Freundin Simone de Beauvoir, Antonin Artaud, Jean Paulhan und andere gewesen, WOLS wäre wahrscheinlich nicht einmal Mitte dreißig geworden.
Also traf ich mich mit Haftmann wegen dieses Peintre Maudit, einem Verlorenen im Sinne des Volksmundes. Werner Haftmann, ein Bekenner seiner Generation, mit den Blessuren und der Nähe zur geschichtlichen Vergangenheit. Seine Neugierde, die neuesten Entwicklungen der Pariser Avantgarde vor Ort in Augenschein zu nehmen, führte ihn frühzeitig zu Kahnweiler und mit ihm zu Picasso. Schließlich verkörperte Paris das besondere Flair. Das Fremde weckte die Sinne, die Neugierde. Werner Haftmann sog dies alles auf: Leben!
Was kostet das Leben? Nur die Hingabe? Trügerisch dies alles! Die Haustüre öffnete eine Tochter Alberto Savinios, groß, blond, liebevoller Blick. Werner Haftmann im Hintergrund. Bücher, Bilder, Skulpturen, alles in Hülle und Fülle. Gleich repetierte ich die Kunstgeschichte des 20. Jahrhunderts.
Werner Haftmann, offenes Hemd, Seidenschal, lose übergeworfenes Jackett, ausgebeulte Hose, kräftig von Statur, volles Haar, sonore Stimme. Gemeinsam gehen wir nach oben. Die Treppenstufen Ersatzregale oder Stellplatz von Skulpturen. Leerer Raum im Sinne Malewitsch gibt es nicht. Alles Teil einer Befleißigung, Unmittelbarkeit.
Wie ich feststellte, war es ihm unangenehm, bewundert zu werden; auch die Intimität seiner Räume zur Schau stellen.
So schloß ich mich seinem Vorschlag an, in die Kneipe um die Ecke zu gehen. Einfaches Wirtshaus. Ein Schnaps musste angestoßen werden: was beschäftigte uns an diesem WOLS so sehr? Seine Entschlossenheit? Sein Schicksal, wobei Schicksal immer auf denjenigen zurückweist.
Für Haftmann war seine Identifikation mit WOLS generational. Für mich war WOLS eine Figur ähnlich wie van Gogh, Rimbaud, Artaud oder andere, der ich Hochachtung und Bewunderung entgegen brachte.
Ich erwähnte mein Anliegen: gibt es noch Menschen, die WOLS gekannt haben? Haftmanns Feststellung war eindeutig, die meisten waren verschieden. Ähnlich war meine Recherche verlaufen, bis auf ganz wenige Menschen in Paris. Unaufgefordert sprach Haftmann von seinem zurückliegenden Bemühen, ein Werkverzeichnis zu publizieren, das jedoch durch das plötzliche Interesse am Werk von WOLS verwehrt wurde, weil mitunter Fälschungen zutage traten, die nicht in seine Auswahl des Werkes passten. Andere, die wirtschaftliche Interessen damit verbanden, waren gegenteiliger Meinung. Doch dieser Einflüsterung wollte Werner Haftmann nicht erliegen.
So blieb es bei einem Werkbuch, das großzügige Reproduktionen und partielle Texte, Gedichte, Aphorismen enthielt. Unvermittelt erwähnte Werner Haftmann Georges Mathieu, den er wegen WOLS getroffen hatte. Auch zu dessen Bewunderern gehöre ich, war Mathieu doch einer der ersten, der die künstlerische Aktion öffentlich zur Schau stellte: ein Performer, als es diese Bezeichnung im Bereich der bildenden Kunst noch nicht gab. Sein Auftritt im Theater Sarah Bernard, in Paris, später in Stockholm und in der Lehnbachgalerie. Dies waren Ereignisse, die den Begriff der malerischen Aktion gleichsam salonfähig machte.
Wie sich später herausstellte, gehörte er zu den großen Bewunderern von WOLS und seinem Werk, das nach seinen Worten, ein Ereignis sondergleichen gewesen sei, das nur mit den späten Bildern van Goghs vergleichbar sei, quasi eine Zeitenwende in der Malerei begründete.
Mit Georges Mathieu in Kontakt zu treten war kompliziert, seine Telefonnummer war nicht eingetragen, und das Gerücht kursierte in Paris, dass er schwierig sei und so gut wie keine Berührung mit der Außenwelt hielt, so blieb mir nichts anderes übrig, als ihm zu schreiben, ebenso wie ich dem Bruder von Jaques Prevert schrieb, in der Hoffnung, Informationen zu WOLS zu bekommen. Indessen bekam ich auch noch von einem Freund, soweit WOLS überhaupt die Neigung zu Freundschaften hatte, Philippe Bernier, die Anschrift; auch dieser bekam einen Brief von mir. Auch bei der Nachlassverwalterin von Jean Paulhan wurde ich vorstellig, erbat Unterlagen, soweit davon, WOLS betreffend, welche vorhanden waren. War doch Jean Paulhan ein früher Interpret der Arbeiten von WOLS und ihm auch persönlich zugetan, und hilfreich, wenn nötig.
Ein Name wechselte den anderen ab. Ich begriff, einen Recherchefilm über WOLS zu machen, und evtl. noch eine dokumentarische Ausstellung im Goethe-Institut in Paris, wird eine mühevolle Angelegenheit, trotz allem, ich war unbeirrt. Von Werner Haftmann erfuhr ich, mit einem salomonischen Lächeln, dass es auch noch eine Schwester gab, im selben beruflichen Habit wie er. Also nahm ich auch mit dieser schriftlich Kontakt auf, die nicht lange auf eine Antwort warten ließ und mir gleich unzweideutig zu verstehen gab, dass der Familie nicht daran gelegen sei, den Lebensweg von WOLS tiefer ausgeleuchtet zu sehen.
Diese Form der Mitteilung, steigerte sich mit der Zeit, indem sie mir gerichtliche Kalamitäten androhte, würde ich an dem Status quo von WOLS, zu dem sie wesentlich beigetragen habe, rühren.
Werner Haftmann konnte nicht ahnen, welche Lawine er damit losgetreten hatte.
Der starren Haltung, dieser inzwischen alten Dame, wollte ich doch auf den Grund gehen. Nach einigem Hin und Her, erklärte sie sich bereit, mich samt meines Filmteams in Freiburg zu empfangen.
Leicht linkisch, stand sie ausstaffiert und erwartungsvoll in der Haustüre einer Jahrhundertwendevilla, auf einem parkartigen Grundstück im Frühlingslicht. Zwischen Schwester und Bruder bestand keine große Zuneigung. Die Schwester hatte sich jedoch das "Erbe", zumindest das ideelle, des berühmteren Bruders zu eigen gemacht, zumal ihre Rolle als Kunsthistorikerin ihr in der desolaten Nachkriegssituation günstig war und die eigentliche Erbin, nämlich Grety WOLS, aus der Schusslinie gebracht wurde, indem die Vermutung gestreut wurde, sie sei mitverantwortlich, dass nach WOLS Tod, Fälschungen in Umlauf kamen. Diese Behauptung fand willige Claqueure, die das "leidige Personal" aus dem Weg räumte.
Wie sich offenbarte, hatte die Schwester alles "erledigt", was den Ausstellern in den kommenden Jahren an Informationen zu WOLS wichtig erschien, so dass WOLS plötzlich wie viele "Unschuldslämmer" des Dritten Reiches eine frisierte Vita hatte, obwohl er mit diesem verwerflichen Gesindel am allerwenigsten zu tun hatte; dieses Regime verabscheute, das soviel Schuld auf sich geladen hatte und ihn in verschiedenen Lagern in Frankreich zur Internierung durch die Schergen des Vichy-Regimes brachte.
Wie ich feststellen konnte, war dies die Stunde der Berufung der Schwester von WOLS, die Stunde der neuen Biografien in diesem Lande. Nein, WOLS war kein Outcast, dies wollte der Kreis der Umsichtigen so. Dies ging soweit, dass WOLS eine Ausstellung, u. a., 1949 in der Betty Person Gallery, N. Y. angedichtet wurde, obwohl Betty Person zu dieser Zeit noch in einer kleinen Buchhandlung tätig war, in der gelegentlich auch Ausstellungen stattfanden, bei der einmal durch die Vermittlung von Kay Boyle, zwei Aquarelle von WOLS in einer Gruppenausstellung Platz fanden. Betty Person eröffnete erst Jahre später ihre Galerie; diese und andere Highlights wurden besseren Wissens aufrecht erhalten, ja, sie zieren noch heute die Biografie von WOLS. Gerade Werner Haftmann war diese Gegebenheit bekannt, was ihn hinderte, WOLS weiter als Aufgabe zu begreifen. Und zu allem Unglück, kam noch hinzu, dass die deutschen und die französischen Institutionen sich gegenseitig WOLS gegenüber aus der Verantwortung stahlen: für die einen war er Franzose für die anderen Deutscher, so dass er ein Heimatloser über seinen Tod hinaus blieb.
Bereitwillig ließ die Schwester die gesamte Crew eintreten. Zu meinem Erstaunen lagen die Bücher auf dem Nachttisch, mit denen sich WOLS sein Leben über beschäftigt hatte: Lao-dse, Dschuang-dse, B. Traven, Faulkner, Artaud, und andere.
Ich bat, sie solle aus der Kindheit, dem Elternhaus erzählen. Doch ihre Diktion klang wie auswendig gelernt. Ich bat um mehr Lebendigkeit, es blieb dabei, auch verschiedene Einstellungen führten zu keinem befriedigenden Resultat. Ich vereinbarte einen späteren Termin in München, zu dem ich noch zwei andere Personen und Werner Haftmann vor die Kamera nehmen wollte.
Auf dem Weg zurück, überlegte ich, wie groß die Kluft zwischen dem Leben von WOLS und dessen Schwester war. Sie hatte das Dritte Reich damit umschifft, wie sie sagte, indem sie protegiert von ihrem Kollegen Kurt Martin, dem späteren Direktor der Neuen Pinakothek in München, Kirchenfenster für das Dritte Reich erfasste.
Wohingegen WOLS als Deutscher in Paris, sobald das Vichy-Regime mit den Machthabern in Berlin paktierte, in verschiedenen Interniertenlagern - man bedenke, eine Toilette für dreitausend Internierte - zubringen musste, mit der Gewissheit, alsbald in ein deutsches KZ verbracht zu werden.
Nein, die Lebensumstände waren WOLS nicht günstig. Nachdem Grety endlich eine Heiratsbewilligung, nach endlosem Bemühen, in Händen hielt, ihn damit dem weiteren Lageraufenthalt entziehen konnte, hatten sie sich in Cassis in einem aufgelassenen Hühnerstall niedergelassen. Indes stürmten die vorrückenden Alliierten den Ort. Prompt wurde WOLS als deutscher Spion verhaftet; gerade ihm, der schon mit 18 Jahren Deutschland verließ, keiner Musterungsaufforderung gefolgt war, wirft man vor, Spion fürs Dritte Reich zu sein.
Paradoxer konnte die Anschuldigung nicht sein; und doch, der Colonell ordnete ein spektakuläres Verhör an. Grety schaffte es schließlich mit ihren Englischkenntnissen, ihn vor einer Exekution zu bewahren.
In München traf ich Hildegard Schill, Malerin, die Anfang der fünfziger Jahre kurzzeitig nach Paris fuhr, mit der Bitte von WOLS Mutter, nach WOLS zu schauen, diesen fand sie im Hotel Louisiana. Alles ein wenig ältlich, dunkle Flure, durch die sie nach dem "Chambre d´ amour" sucht. Grety öffnet leicht berockt. Die Frage nach WOLS beantwortet sie mit einer Handbwegung in den Raum weisend: inmitten ein Bett, in dem WOLS lag.
WOLS kommentiert die Grüße herablassend: "Ach, diese Geheimratsfrau!"´ Dies die Zeit, in der WOLS gerade von einem Akoholentwöhnungsaufenthalt, den ihm Dr. Ph. Daussett organisiert hatte, zurückgekehrt war; der Versuch, ohne Alkohol, ohne Paris und die Zechkumpane zurechtzukommen, war erst vor Tagen in einem kleinen Ort an der Marne gescheitert, nun war alles wieder wie zuvor.
In diesem Tenor gingen wir die Stationen des WOLS´chen Lebens durch, bei dem immer neue Namen sich abwechselten , z. B. Dr. med. Jean Kohn, ehemaliger Mitschüler in Dresden, Jude, dem die Mitschüler mit Hänseleien und Provokationen zusetzten. Jahre später, nachts, stehen sie sich in Paris zufällig gegenüber, WOLS bittet um Arzneimittel und einige Sous.
Horst Beck, ebenfalls zeitweilig als Maler in Paris, auf dessen Fährte ich am Bodensee stoße, voller Lebenskraft, seine abstrakten Bilder malend. Ja, in Paris sei er bisweilen mit WOLS zusammen gewesen. Seine Zeit sei bemessen gewesen, weil er sich einen kleinen Obolus in Hans Hartungs Atelier durch die Grundierung von dessen Leinwänden verdiente, dieser reichte gerade, um in der Sorbonne-Mensa ein Mittagsmahl einzunehmen, wie er beiläufig bemerkt. Zu dieser Zeit war Hans Hartung schon dabei, den ersten Erfolg zu haben.
Schließlich treffe ich Ernst Langendorf, der auf Ibiza, während der Zeit als WOLS und Grety dort weilten, mit einem Freund eine kleine Galerie hatte. Auch dessen Schilderungen sind nicht ergiebig, bzw. von Respekt gekennzeichnet, wie WOLS diese ganzen misslichen Umstände bewältigte. Später, nach dem Krieg, trafen sie nochmals in Paris zusammen. Bernie Kornfeld, der die erste WOLS Präsentation in Bern vornahm, schilderte kurz die Begegnung. WOLS war in keinem guten gesundheitlichen Zustand, möchte keinen Kommentar dazu abgeben, weil andere dazu berufener sind. Der Schweizer Galerist Räber, beruft sich auf seine frühe WOLS-Ausstellung, persönliche Eindrücke hat er keine. Hinzu kommt noch die liebevolle Frau Dr. Stüncke, Galerie Der Spiegel, die mit WOLS nicht mehr in Berührung kam, je- doch mit Grety, mit der sie längeren Kontakt hat. Die Galerie, Der Spiegel, richtete die erste deutsche Ausstellung von WOLS aus. Sie unterbreitet mir das Gedicht, das Grety als Nachruf schrieb und in der Galerie Loeb, in Paris, ins Schau- fenster, neben die Gipshand von WOLS legte.
Beiläufig erwähnt Werner Haftmann, Claire van Damme, die ihre Promotion über das Werk von WOLS schrieb, auch mit ihr nehme ich Kontakt auf. Wie sich erweist, verfügt sie über profunde Kenntnisse und ein großes Archiv zu WOLS.
Mit all diesen Personen, mit all diesen Informationen versehen, beginne ich für den Dokumentarfilm "A LA RECHERE DE WOLS" und die Ausstellung "WOLS, SA VIE", den Personenkreis zu bestimmen, der sowohl für den einen und den anderen Bereich herangezogen wird.
In Paris treffe ich noch Pierre Boulez, der sich sofort bereit erklärt, ein Statement zu WOLS in dem Dokumentarfilm abzugeben. War es doch WOLS, der ihm bildnerische Gleichnisse aufzeigte, dies bei der ersten Ausstellung seiner Werke bei Droin, am Place van Dome; ja, ihn inspirierte, ähnliche Strukturen in seinen Kompositionen zu verwenden.
Wir verabredeten einen Aufnahmetermin im IRCAM-CENTER, dem Musikforschungszentrum, das ihm Georges Pompidou, nach seinen Plänen, vis a vis vom Centre Popidou, unterirdisch bauen ließ. Wie sagte Boulez, WOLS ist die Sonne, Michaux die Nacht. Beides rastlose Ausdruckssucher, bei denen die gerade hervorgebrachte Arbeit, erst der Vorsatz eines endlosen Bemühens wird.
Einige Tage später bei Dr. Jean Kohn, der erwähnt, dass dies sein letzter öffentlicher Auftritt wird, denn er habe im fortgeschrittenen Stadium Leberkrebs. Meiner Reaktion, darauf verzichten zu wollen, ihn vor die Kamera zu nehmen, widerspricht er. Ich bitte ihn, unter einem großen Dachfenster Platz zu nehmen, die Sonne erhellt im Wechselspiel seine Silhouette. Schweißgebadet, müssen wir die Aufnahmen von Fall zu Fall unterbrechen. Ein Enkel bringt ihm wiederholt ein Handtuch. Dr.Jean Kohns Aussagen zu WOLS, sind weniger poetisch, eher erzählen sie vom Elend dieses Daseins, das er auf dem Wege der Selbstzerstörung mitunter helfend begleiten konnte.
Tage später in München. Noch immer ist WOLS Schwester nicht frei im Umgang mit meinem Projekt, sie erscheint wie verabredet, ich bitte, ihre Tonlosigkeit, in ihren erneuten Schilderungen, für den Dokumentarfilm, doch mit mehr Schwung in der Stimme vorzutragen; mehrere Versuche verändern nicht den Mangel; sie erzählt erneut Familienanekdoten WOLS betreffend, alles zeugt von bürgerlicher Enge, bei der die Etikette mehr zur Betonung steht, als das Individuum in seiner Art.
Ich bitte Hildegard Schill vor die Kamera; sie trifft, wie schon erwähnt, auf WOLS und Grety im Hotel Louisiana: verlegen klopft sie, Grety öffnet, steht vor ihr, sie teilt den Grund ihres Erscheinens mit. WOLS liegt im Bett und kommentiert herablassend über die Grüße seiner Mutter. Rechts auf einem Tischchen, Spritze, Tabletten und eine angebrochene Weinflasche, im Nachsatz erwähnt sie noch, dass WOLS epileptische Anfälle gehabt habe, kaum hat sie dies erwähnt, schreit die Schwester auf, die im HIntergrund Platz genommen hat: "Das stimmt doch alles nicht!"
Daraus entwickelt sich vor laufender Kamera ein Disput zwischen den beiden Frauen. Ich schreite ein, verbiete WOLS Schwester, die Aufnahmen zu stören. Es geht für einen Moment weiter. Hildegard Schill ist irritiert. Ich verweise WOLS Schwester vor die Türe. Die Aufnahme wird noch einmal wiederholt.
Tags danach nach Gmund: Werner Haftmann elegant, lässig im Erscheinen. Das Team positioniert die Kamera, richtet die Beleuchtung. Werner Haftmann im Sessel. Ich erwähne kurz den Tenor und schon beginnt Werner Haftmann einen Monolog über WOLS, der seinesgleichen sucht.
Plötzlich verschafft sich das generationale Empfinden, der Respekt und die grenzenlose Bewunderung, freien Lauf, wie es selten passiert. Emilio Vedova hatte ihn auf WOLS verwiesen. Je häufiger sie über das Werk von WOLS sprachen, desto mehr rückte das Werk immer näher an ihn heran, so dass Werner Haftmann beschloss, WOLS auf der Dokumenta, dessen früher Direktor er war, zu präsentieren.
WOLS Arbeiten wurden zuvor schon auf der Biennale in Venedig gezeigt. Ich beschließe, aus wirtschaftlichen Erwägungen, erst einmal keine zusätzlichen Protagonisten vor die Kamera zu nehmen, zu vage ist das Interesse der Öffentlichkeit, an diesem Malerschicksal.
Verstärkt wende ich mich nun der Ausstellungsvorbereitung von "WOLS, SA VIE" zu, die Anfang 1986, im Pariser Goethe- Institut, stattfinden soll.
Indessen hat Georges Matthieu für einen Text zugesagt, ferner Philippe Bernier, zeitweilig ein intensiver Dialogpartner von WOLS, während der nächtlichen Eskapaden, durch die Pariser Boheme-Kneipen; Philiph Dausset, der Arzt, und Ernest Langendorff sowie Cornelia Stabenow, eine liebe Freundin und Claire van Damme, die eine monumentale Studie zu WOLS ankündigt. Ferner erhalte ich noch zwei in ihrer Menschlichkeit bewegende Briefe von Jean Paulhan, Durchschriften, die sich in dessen Nachlass befanden, die dieser im Namen von WOLS an öffentliche französische Institutionen schrieb, um Hilfe für dieses einzigartige Talent, zu erbitten.
Das Fotomaterial von WOLS kommt aus den Beständen der Schwester, das ich durch einen Becher-Schüler abfotografieren lasse. Wie sie in dessen Besitz kam, ist mir rätselhaft geblieben, weil sich, abgesehen von Kindheitsfotos, ganze Zyklen von "Autoportaits" darunter befanden, die WOLS mit dem Selbstauslöser machte. Das nach ihrem Ableben im Container landete, wie mir ein Kurator des Dresdener Kupferstischkabinetts berichtete.
Desgleichen verfügt sie auch über ein großes Konvolut von künstlerischen Aufnahmen und Negativen, die zum Teil noch nicht veröffentlicht sind, wie kam sie in deren Besitz?! Ich konzipiere die Ausstellung "WOLS, SA VIE". Die Bebilderung beruht auf den Autoportraits, die ich im Maßstab 120 x 80 cm vergrößern und mit einer Plastikschicht versehen lasse, lediglich die Jahreszahl, soweit diese zu ermitteln ist, wird auf der Bildtafel unten rechts vermerkt. Sechzig Exponate spiegeln ein Persönlichkeitsbild, wie dies vordem noch keine Ausstellung zu seiner Person und seinem Werk vermöchte. Mittig des Raumes stehen drei langezogene Vitrinentische, in denen handschriftliche Briefe, Gedichte, Aphorismen von WOLS im Wechsel mit Korrespondenz von Camille Bryen, Jaques Prevert, den WOLS einmal blutübertrömt aus der Badewanne holt, als dieser die Absicht hat, sich das Leben zu nehmen - Notizhefte, Zettel, die Wort und Skizze vereinen. Oder seine Zirkusidee zum Thema haben, die WOLS nie verwirklichen konnte, und vieles andere mehr.
An der Stirnseite des Raumes, hing ich schmale, konkav ausgerichtet, ca. fünfzehn schwarze Streifen, ca. 250 x 15 cm lang, auf denen sich unterhalb, in weißer Schrift, Texte, Gedichte von WOLS fanden und als Geräuschhintergrund, lief verhalten eine Komposition von J. S. Bach zur Laute, die John Brym interpretierte, die WOLS mitunter auf seinem Banjo spielte, denn seine Violine musste er schon nach ihrem Aufenthalt auf Ibiza, in Barcelona, versetzen, weil Grety und er nichts zu Essen und kein Dach über dem Kopf hatten. Analog gestalte ich den Ausstellungskatalog zu "WOLS, SA VIE", soweit eine Chronologie zu verwirklichen ist. Dessen Schluß WOLS auf dem Totenbett zeigt.
Der Bewunderer, Georges Matthieu, inzwischen auf einen Stock gestützt, eröffnet die Ausstellung und ruft mit einer Ovation, einer Zuneigung und Herzlichkeit das Bild von WOLS wach, dass alle für die kommende Zeit Teil haben an seinem Leben und Schaffen.
Werner Haftmann und ich trennen uns vor der Wirtshaustüre, eingedenk von WOLS.
Henry Gowa
Henry Gowa traf ich in einem angemieteten Reihenhaus in sakraler Stille. Die Jalousien waren
herabgelassen, ein großer L-förmiger Raum, in dem ein Refektoriumstisch für viele Gäste
stand, jetzt versehen mit allerhand Papierkram, dessen Ordnung gemäß dem Hausherren
war.
Henry Gowa war indessen beinlos, saß im Rollstuhl und betonte mit einer leicht rauhen
Stimme seine Anwesenheit. Ich wusste nicht so recht, mich zu Verhalten. Zeigte ich Betroffenheit, würde er sich dagegen verwahren.
Exilierter Jude, während der NS-Zeit in Nizza bei einer Freundin untergetaucht, kam er nach
dem Krieg zurück und erklärte dieses Land, dessen NS-Schergen nach seinem Leben trachteten, zu seiner wieder erwählten Heimat.
Die in Gründung befindliche Werkkunstschule in Offenbach, berief ihn zu seinem Leiter. Dies gab ihm eine Aufgabe, und ließ ihn Mitgestalten, am neuen Gesellschaftsbild der
Bundesrepublik. Die Rhein/Mainmetropole wurde das Zentrum des Cashflow. Kunst und
Künstler hatten keinen Stellenwert. Es reichte gerade für eine Werkkunstschule, die Designer für die künftige Behaglichkeit ausbildete. Kunstkram kam nicht weiter in Frage, es genügte die Selbstgefälligkeit.
Sein Werk, abtrakt-figurative Bilder, befand sich im Souterrain; ihr Ausdrucksvermögen
vermittelte mir den Eindruck, religiös-mystischen Verlangens eine Stimme zu geben.
Seiner Bitte entsprechend, nahm ich ihn an die Brust und trug ihn die Treppe hinab.
Fast ein Fliegengewicht, setzte ich ihn vor seine Bilder, die geschichtet eingelagert waren,
zog eines nach dem anderen heraus, betrachtete seine künstlerische Welt und war mir
nicht schlüssig, wo sein Platz in der Kunst des 20. Jahrhunderts war.
Fragte ich nach Zusammenhängen der Konfiguration, trat ein Lächeln in sein Gesicht, das
bleich und von einen Stoppelbart geziert wurde. Eine Antwort blieb aus. Ich schob die Bilder
wieder zurück, und war eher von der Stille, die Henry Gowa verbreitete, fasziniert.
Wie ich bemerkte, trat eine gewisse Ratlosigkeit ein, da ich sein Werk distanziert vernahm.
Schließlich fand die Begegnung mit der Absicht statt, seinem Werk öffentliche Aufmerksamkeit zu verschaffen, was ich jedoch nicht einlösen konnte, wie ich empfand, weil seine Bildwelt mir nicht zugänglich war.
Nachdem wir eine Weile ohne ein Wort zu wechseln im Raum verweilten, nahm ich ihn wieder
an meine Brust und trug ihn nach oben, wo ein Freund, der mich zu ihm brachte, inzwischen
einen Tee bereitet hatte.
Wieder trat die Stille in den Vordergrund. Da saßen wir nun und hatten wenig zu reden, schauten dem Dampf, der aus den Teeschalen aufstieg, zu, und versuchten, der Verlegenheit eine
Pointe abzugewinnen.
Die Stille unterbrechend, erwähnte Henry Gowa seinen langjährigen Freund, Franz Maserel,
dem er in Paris begegnet war und mit dem er wohl eine langjährige Freundschaft hatte. Wie ich nachher sah, hingen einige Holzschnitte Maserels an der Stirnwand des Raumes, die auch nicht meine Zustimmung fanden, die aus der Zeit der Antifa stammten, mit der Masarel einen öffentlichen Stellenwert einnahm.
Das Gespräch verlor sich wieder in der Einsilbigkeit, bei dem der Eindruck entstand, dass
Henry Gowa, außer seiner bildnerischen Welt, wenig mitzuteilen hatte. Plötzlich kam mir die
Anwesenheit überflüssig vor. Da saß nun ein Mensch, seines halben Leibes beraubt, der auf
eine erfahrungsreiche Vergangenheit blickte und konnte der Gegenwart nichts mehr abgewinnen.
Ich wartete den Moment ab, zu dem es nicht unhöflich erschien, mich von Henry Gowa zu verabschieden und den Eindruck der Anwesenheit vergessen zu machen.
Jahre später, las ich seine Sterbeanzeige, aus der hervorging, dass er mit allerhand Orden
für seine Verdienste versehen, verschieden sei.
Wolfgang Hechenbichler
Wolfgang Hechenbichler stand eines Tages unmittelbar vor mir. Sofort empfand ich seine interessante Persönlichkeit.
W. kam gerade von der Akademie, wo Prof. Ladner sein Lehrer war. Ein Bildhauer, noch der Figur verschrieben, und diese Auffassung auch seinen Studenten vermittelte, obwohl dies inzwischen ein alter Hut war. Entsprechend waren die Arbeiten, die W. während dieser Zeit an der Münchner Akademie schuf.
Aber dies war nur die eine Seite seiner künstlerischen
Befähigung; ihn interessierte der gesamte Kosmos mit
all seinen sehbaren und unsichtbaren Erscheinungen,
der ihm Aufgabe und künstlerische Stellungnahme abverlangte. Dies führte dazu, dass W. wie ein Demiurg
die Visionen ergriff, die ihn überwältigend trafen und zu einer Konfiguration formte. Häufig trug W die Objekte auf dem Nachhauseweg, unter dem Arm, erschien ihm jemand sympathisch, wurden diese gleich als Geschenke überreicht.
Mitunter traf ich W. in Schwabing, und wenn die Gelegenheit passend war, gingen wir zu mir, wo ich einen Tee bereitete oder seinem Hunger geschwind etwas zu Essen bereitete. Diese Begegnungen begleitete immer ein Gespräch über Literatur, Philosophie oder völkerkundliche Themen. Mitunter zündete ich den Kamin an,
so dass wir der Feuerflamme zusehen konnten, wie die
Vergänglichkeit der Holzscheide uns ermahnte, dass der
Augenblick zwar die Dauer bezeugt, jedoch nur ein
flüchtiger Moment ist.
Gelegentlich besuchte ich W. in seinem Atelier,
wo ein mächtiges Hochbett sein Refugium prägte. Mich erstaunte immer wieder die Bedürfnislosigkeit, mit der W. sein Leben fristete.
Das Atelier geräumig und hoch, sollte es ein kleiner
Ofen wohlig heizen, was der kleine Ofen natürlich nur
unzureichend tat, so dass die Wärme sich nur im Radius um seine Grundfläche erstreckte. Wenn also Besucher kamen, winterliche Temperaturen herrschten, dann streckten alle nach Wärme suchend ihre Hände
zur Ofenmitte. W. nahm diese Unbill mit Humor und
Gleichmut. Niemals hörte ich W. Klagen oder die Sehnsucht nach einer anderen Lebensform suchen.
Das Atelier ließ sich auf Dauer wohl nicht halten, so
dass W. beschloss, nach Waging, seinem Geburtsort,
zurückzukehren und als Pendler weiterhin die Akademie
zu besuchen. Dies führte dazu, dass alte Schrottautos,
die andere ausrangiert hatten, sein fahrbarer Untersatz
wurden. Dabei passierte einmal das Malheur, dass von
dem Wagen ein Vorderrad abfiel, das ein Stück dem Wagen vorauseilte, bis dieser eine Neigung machte und am Boden entlang schleifte.
Es dauerte nicht lange, bis Ws. Mutter ihm nahelegte, die ehemaligen Ordinationsräume seines Vaters, der Veterinär war, zu räumen und sich eine andere Bleibe zu suchen. Ein Stück außerhalb des Ortes fand W. ein aufgelassenes Bauernhaus, das ihm gerade recht in seiner Geräumigkeit und Verkommenheit war.
Hier hauste W. einige Zeit, bis ihm ein DAD- Stipendium die Möglichkeit bot, in Santiago, Chile, sein Studium fortzusetzen.
Von überall, wo auch immer W. Arbeiten gelagert oder
untergestellt hatte, wurden diese zusammengetragen
und entweder zu mir oder nach Waging, soweit die Mutter dies zuließ, gebracht.
In diesem Zeitraum war ich mit W und meiner Freundin
in seinem Bauernhaus, das wie ein wüster Schaffensplatz
aussah, Lebens- und Arbeitsraum zugleich war, verabredet. Wie es häufig war, saßen wir in dem offen stehenden Haus und warteten. Von W keine Spur. Nachdem wir einige Stunden verweilt hatten, beschlossen wir, wieder aufzubrechen - Handys gab´s zu diesem Zeitpunkt noch nicht -. Wir führen gemächlich durch die schöne Landschaft, und gerade als wir in Wasserburg die ansteigende Schosse hinauf fuhren, kam uns W mit einem Leichttraktor und einem verrosteten Anhänger, der nur aus dem Gerippe bestand, beladen mit einem tonnenschweren Stein, der mit einfachen Seilen verzurrt und festgebunden war, entgegen. Auf dem Seitenblech des Traktors saß sein Hund Als wir uns gegenseitig wahrnahmen, hielt W unvermittelt auf der abschüssigen Schosse, nicht ahnend, dass seine ganze Ladung ihm das Kreuz brechen könnte. Aber solche Überlegungen kümmerten W nicht.
Wir verabredeten uns erneut, diesmal zu einem Gartenfest bei mir.
Es waren schon allerhand Freunde und Bekannte gekommen, u. a. Jürgen Klauke und seine Perfomance-Partnerin, Kuno Lindenmann, Li Zimmerer, die mit W
inzwischen eine lebhafte Freundschaft verband, und
natürlich W, der sein Cello mitgebracht hatte.
Außerdem waren noch viele andere Freunde da, die nicht unmittelbar im Bereich der bildenden Kunst tätig waren.
Zum Auftakt stimmte W ein mittelhochdeutsches Lied an, zu dem sein Cello in reicher Modulation erklang.
Alle Anwesenden waren erst einmal erstaunt. Der Abend wurde zunehmend gelöster, Kuno Lindenmann hatte seine Violine und eine Kindergitarre mitgebracht, so dass W und Kuno im Duett improvisierten. Das Fest nahm seinen ausgelassenen Gang. Bis nach Mitternacht, gegen drei Uhr, nahm W die Kindergitarre und begann Flamenco darauf zu spielen. Unvermittelt trat ein Katalane hervor, der auf dem Eingangsbereich zur Haustüre zu Tanzen anfing. Zu ihm gesellte sich eine Besucherin, die Flamenco beherrschte und schon war die Krönung des Festes angestimmt.
Es vergingen noch einige Wochen bis zur Abfahrt von
W nach Südamerika, die Reise sollte unbedingt mit einem Kohlenschipper, seinem Motorrad und seinem
Hund stattfinden, daran war nicht zu rütteln.
Inzwischen besuchte wir ihn nochmals in dem Bauernhaus. Diesmal hatten wir mehr Glück, und beschlossen
mit W. und einer Freundin von ihm, nach Laufen zu
fahren und dort die mittelalterlichen Stadtteile in Augenschein zu nehmen. Dies gestaltete sich sehr eindrucksvoll, wobei wir zufällig in die Krypta gerieten, in der
Gebeine und Schädel, mit handschriftlicher Namensnennung aufeinander geschichtet waren. Die Kinderschädel befanden sich separat angeordnet, unterschiedlich in ihrer Größe, alle mit Namen und dem Geburts- und Sterbedatum versehen. Beeindruckend die Atmosphäre.
Noch ganz von dem Eindruck benommen, sah ich, wie W einen kleinen, jedoch sehr ansehnlichen Kinderschädel nahm, den er bei sich verwahren wollte.
Wieder vergingen einige Tage und W stand an
meinem Grundstückstor. Unterm Arm trug W. eine Rolle. Kaum das Haus betreten, zog W. die Blätter aus der der Rolle, die er mir reichte. Das eine ein Meluskentänzer, in einer Spirale gefangen, darunter die handliche Zeile " Auf Wiedersehen!". Das andere, ein Toter, aufgebahrt auf einem Holzstapel zur Einäscherung.
In diesem Moment ahnte ich nicht, dass die beiden Zeichnungen Spiegelbilder seines Schicksals waren.
Wie ich später erfuhr, war W mit Künstlerfreunden in den
Chilenischen Nationalpark gegangen und aus Jux unter den dortigen Wasserfall getreten, der W zu Tode brachte:
zurück blieb sein junges, unvollendetes Werk und das Gedenken.
Irma Hünerfauth
modischer Haarschnitt, ovales Gesicht, langestreckter Körper, Malerin und Bildhauern.Ihre Eigenschaften: Leidenschaft, Lebhaftigkeit, die auch die Stille verkörperte, Großzügigkeit im Denken und Handeln. Inzwischen, na ja, so genau wußte dies keiner, sagen wir, um die Achtzig, allerdings putzmunter. Kam ich zu ihr, ergab sich schnell Nähe und Vertrautheit. Sie tischte Kuchen, eigens vom Konditor geholt, auf, saß lebhaft gestikulierend und erzählend mir gegenüber. Entweder ging es um ihre künstlerische Arbeit oder um Episoden ihres Leben, das reich war an Begegnungen, Lieben und Empfindungen, woran sie mich teilnehmen ließ.
Allmählich fand auf dieser Ebene ein Austausch statt, der die Verschlungenheit der Umstände mit dem persönlichen Leben beschaute. Dabei betonte das Timbre die Gefälligkeit der Umstände, die im Glauben des Augenblicks Wunschbildern entsprachen und wie ein Atemdunst verflogen. Manches Mal erinnerte mich dies an das Poem von Maria Rosetti: Meine Ernte ist ein/ gestillt mein Verlangen/ Meine Ernte ist ein... Ohne Wehmut ausgesprochen, eher hingehaucht als Gleichnis für die Stunden, die dafür standen und das Leben bezeugten.
Dabei ergab sich auch manche Anspielung, die dem Eros Tribut zollte und die Vergangenheit mit dem Augenblick vermischte. Ich nahm die Schwingung auf und balancierte sie als Offerte fort, ohne von ihr eingenommen zu werden. In solchen Momenten, wenn ihr die Situation augenfällig wurde, sprang sie auf, holte eins oder zwei Bücher, dessen Inhalt sie meinte, zu meiner geistigen Bereicherung geeignet zu sein, mit der Versicherung, dies als Geschenk entgegen zu nehmen.
Meine Worte des Dankes weckten bei ihr Schamgefühle, weil sie mich eigentlich umarmen wollte und die Bücher stattdessen eine Ausflucht der Zuneigung waren.
Oscar, ihr Vierbeiner, nahm die Situation wahr, gab ihr einen Stups ans Knie und schon war die Verlegenheit dahin.
Ob ich nicht noch einen Kuchen wolle? Nein, nein, sagte ich, um nicht ebenfalls der Ausflucht den Vorschub zu geben.
Sodann gingen wir ins angrenzende Atelier, besprachen ihre neuesten Arbeiten, die, wie sie wußte, meine Zustimmung finden würden. Ihre aktuelle Konfiguration bestand aus kleinen Computer Schalttafeln, meistens sechs oder acht Teilen, auf denen sie kleine Poeme schuf, die Geschichten von der Zufälligkeit beschrieben.
Dies führte einmal dazu, dass sie ihre Computertafeln in den Backofen schob, um zu sehen, wie der Verschmelzungsprozess diese in ihrer Form noch höht, wobei sie sich eine Vergiftung zuzog, so dass ich sie in der Klinik aufsuchen musste. Nachdem sie wieder genesen war, verabredeten wir, eine befreundete Künstlerfamilie in Isny zu besuchen.
Irma fuhr ihren erst kürzlich erworbenen Peugeot, dabei lebhaft erzählend. Nachdem wir eine Weile die Autobahn lang gefahren waren, mussten wir, um in den Ort zu kommen, eine kleine Wegstrecke auf der Landstrasse entlang fahren.
Beide waren wir von ihren Schilderungen eingenommen, als ich aus dem Augenwinkel sah, dass wir unmittelbar vor einem unbeschränkten Bahnübergang waren, dessen Ampel rot war. I noch immer im lebhaften Redefluss, bekam von all dem nichts mit. Ich ermahnte sie ganz plötzlich Gas zu geben, aber dies entsprach gerade nicht ihrer Neigung, also nahm ich meinen linken Fuß und trat auf ihren Fuß, der lasch auf dem Gaspedal ruhte. Ihre Reaktion war ungehalten, weshalb ich auf ihren Fuß treten würde?! Kaum waren wir über das Bahngleis gelangt, ratterte auch schon in großer Lautstärke ein Intercity hinter uns vorbei. "Na, begreift du, weshalb ich auf deinen Fuß getreten bin!?" Verwundert sah sie mich an, die Tragweite noch nicht erfassend.
Jahre später, rief sie mich an, erbat meinen baldigen Besuch. Eine gewisse Niedergeschlagenheit. die ich an ihr nicht kannte, vermittelte sich mir. Ich fragte nach dem Grund, sie wich mir aus, eine Aussage zu machen, stattdessen legte sie mir einige große Geldscheine hin, mit der Bitte, ihr ein Mittel zu besorgen, mit dem sie ihrem Leben ein Ende setzen könne. Ich erwiderte, dass ich zu solchen Quellen keinen Zugang habe und auch die Verantwortung nicht übernehmen möchte. Sie blieb mit ihrer Bitte standhaft, so dass ich genötigt war, das Geld zu nehmen, mit der Absicht, ihren Wunsch nicht zu erfüllen.