Benny, Seine Neigung war sein Beruf…
Leichtmatrose von Statur mit Pagenschnitt; flotte Schnauze mit dem Hang zur Belustigung; aus Passion Sammler
verschiedener Genres.
Hin und wieder erwarb ich eine Bibliothek, deren gesamter Bestand nicht mein Interesse fand, so dass ich einen
Großteil wieder verkaufte. Zu diesem Zweck betrieb ich ein mobiles Antiquariat vor der Münchner Mensa. An einem
dieser Verkaufstage stand plötzlich B. vor mir und begann ein überaus interessantes Gespräch mit mir.
Dies setzte sich im Lauf der Zeit fort, so dass wir uns allmählich anfreundeten.
Nachdem mir B. von seiner Kunst- und Inkunabelsammlung erzählt hatte, war ich natürlich begierig, diese Schätze
einmal persönlich in Augenschein zu nehmen.
Also besuchte ich B. in der Türkenstraße., wo er die ehemaligen Räume des Theaterwissenschaftlichen-Instituts inne hatte.
Ursprünglich waren diese Räume ein Atelier, worauf ein großes, sich in die Höhe erstreckendes Sprossenfester hinwies.
Zwei Räume, wovon der hintere, wie schon erwähnt, der eigentliche Atelierraum gewesen sein muss. Der vordere Raum
war etwas kleiner, hatte jedoch eine kleine Bühne, auf der für die Studenten der Theaterwissenschaft, die nach den Krieg
noch eine exotische Existenz innerhalb des Münchner Universitätsbetriebes führte, studentische Aufführungen stattfanden.
Der Eingangsraum war ringsumher mit einer Brüstung versehen, auf dessen Podest Khmerbüsten aus Bronze standen. Oberhalb der linken Wand hingen zwei Delacroix Bilder. Im Hintergrund stand ein schwarzer Flügel, ihm gegenüber ein Esstisch
mit Stühlen und unterhalb der linken Wand lagen kaukasische Teppiche zusammengerollt. Das Ambiente hatte Atmosphäre,
ohne spießig zu wirken.
B. vermittelte allerdings nicht die Ruhe, um die Gegenstände näher zu betrachten. Vielmehr hastete er durch die beiden
Räume, holte Getränke und war fast verlegen, ob der Fülle der Schätze, die sich um ihn herum gruppierten, wovon ich jedoch
nur einen Bruchteil sah, weil vieles verräumt oder verpackt und verstaut war.
Zu all den "Trophäen" war Benny imstande, sich erschöpfend zu äußern, inklusive Querbezüge in die Kunstgeschichte.
Eine wandgroße Bibliothek vermittelte einen kleinen Eindruck, was Benny interessierte. Das frühe zwanzigste Jahrhundert rangierte mit erlesenen literarischen-, kunstgeschichtlichen- und erotischen Kostbarkeiten. Genauso standen ganze Jahrgänge
des Simplizisimus in den Regalen. Aber auch medizinische Literatur, von der in einem Nürnberger Renaissanceschrank wahre
Kostbarkeiten des frühen 17. Jahrhunderts, nämlich anatomische Atlanten, im Kupfertiefdruck hergestellt, sich befanden. Diese
zeigte B. mit einem gewissen Stolz, schließlich war die Medizin als Arzt sein Beruf, den auszuüben, ihm untersagt war, weil
ihm Verfehlungen gesetzlicher Bestimmungen unterstellt wurden, die nach seiner Schilderung, abwegig waren. Was ihn nicht hinderte, illegal als Urlaubsvertretung von Kollegen tätig zu sein. Dies stellte Benny damit unter Beweis, was ihm wichtig war, dass
er ganze Einkaufsbeutel von Arzneiproben mit nach Hause schleppte, um sie "Freunden" entweder zu schenken oder im Zusammenhang mit einer freundschaftlichen Untersuchung im "Paket" bar zu verkaufen.
Manchmal konnte ich all diesen Berufen und Berufungen keinen rechten Glauben schenken, denn B. behauptete, auch Filme
gemacht zu haben, wenn ich Details erfragte, wurde er entweder redselig oder er wechselte das Thema. Aber dies schmälerte nicht
den Umgang mit ihm, denn seine herzliche Art ließ dies alles gleichgültig erscheinen.
Eines schönen Tages, lud B. mich und meine damalige Lebensgefährtin zum Essen ein. Hier muss ich noch anmerken, B.
lebte in zwei Beziehungen, einmal mit einer Malerin- und Bildhauerin, die schon lange seinen Lebensweg begleitete und mit einer
jungen Frau, um die Zwanzig, mit der ihn die Erotik verband: zeitweilig lebten alle in der Atelierwohnung.
An besagtem Tag standen meine Partnerin und ich vor der Türe, B. öffnete mit einem Lächeln, bat abzulegen und zu Tisch.
Dezente Beleuchtung und Kerzenschein riefen eine angenehme Atmosphäre wach. Der Esstisch war reich mit KPM Porzellan feinster
Provenienz dekoriert, erlesner Wein und natürlich altes Besteck, zierte den Tisch. Zu diesem Anlass war lediglich seine altgediente
Lebensgefährtin anwesend. Aus dem Hintergrund roch es nach delikatem Lammbraten, zubereitet nach provenzalischer Art. B.
wie immer im T-Shirt, seine Augen strahlend. Nachdem wir abgelegt hatten, nahmen wir Platz, besagte ältere Lebensgefährtin
brachte in einer Bratenschüssel die Lammstücke, wovon jedem zwei Stücke gereicht wurden. Hierzu wurden gepellte und in Butter
nochmals angebräunte Kartoffeln, die mit Oreganon aromatisiert waren und Brokkoli, der auch in Butter gedünstet war, gereicht. Aus
dem Hintergrund erklang eine Kammermusik Rampahls, die das Aroma der Speisen untermalte. Wie üblich bei solchen Gästeessen,
fand die dazugehörige Konversation mit dem Schwerpunkt auf den kulinarischen Genuss statt. Dies in einem nicht alltäglichen Ambiente, mit entsprechenden Gastgebern, die ein unkonventionelles Dasein führten.
Zum Nachtisch gab´s Morcheln mit einer Karamellsauce und jeweils einem Tupfer Kokusflocken verziert. Sobald das Essen beendet
war, ging B. zum Flügel, nahm auf dem Schemel Platz und begann die Nocturnos von Chopin zu spielen. Auch davon hatte ich
keine Kenntnis, dass ihm das Pianospiel so virtuos von der Hand ging.
Mit der Zeit wurden die Besuche bei B. zur Regelmäßigkeit, hierbei zeigte er mir seine neuen Objekte oder auch kurz einmal zwei
Sprungeckeluhren, die gerade wieder aus dem Pfandhaus ausgelöst wurden, weil Geldnot sie dahin befördert hatte.
Nichts desto trotz standen oder hingen die Schätze in Hülle und Fülle, u. a. eine Riemenschneider Skulptur, mehrere Barlach Figuren,
andere Stücke, die ich nicht klar einordnen konnte, und bildeten die Kulisse, in der B. und seine beiden Frauen ihr Leben zubrachten.
Die Freundschaft währte einige Jahre. Wieder einmal ging ich ihn besuchen, klingelte wie üblich mit Klingelzeichen, worauf mir geöffnet wurde. Mit dem Lift in der letzten Etage angelangt, stand statt B. die ältere Lebensgefährtin in der Türe, Unvermittelt fragte
ich nach B. Ich nahm an, dass er entweder schlief oder in irgendeiner Verrichtung unterwegs sei. Nein, nein, bedeutete mir die
ältere Lebensgefährtin, ich solle eintreten. Wie ich sofort spürte, war etwas vorgefallen. Und ohne dass ich lange fragen musste,
teilte diese mir in einem sehr sachlichen Ton mit, dass B. während des Beischlafes mit der jüngeren Liebhaberin einen Herzschlag
bekommen hätte. Sie gerade dabei sei, die Objekte zu sichten und zu überlegen, wo diese auf dem schnellstem Wege veräußert
werden können. Wie ich während des Gespräches erfuhr, bargen seine Schätze noch allerhand, z. B. eine erotische Schmucksammlung, ebenso eine erotische Filmsammlung aus den frühen zwanziger Jahren, Gobelins und eine antike Gewährsammlung. Und vieles,
was mir gegenüber verschwiegen wurde.
Wenn ich mir B. nun wachrief, trat mir sein kindliches Gemüt entgegen, für das die "Trophäen" Spielzeuge waren, die ohne viel Zutun,
sein Gemüt in Gang hielten. Nun waren sie zwecklos geworden, suchten ein neues Zuhause.
Ich bedankte mich für die Nachricht und wandte mich zum Gehen.
Mik, Was gab es da noch zu sagen…
M`s Selbst- und öffentliches Bild: ovales Gesicht, schrundig, mit Damenhut als Zierde. Das Jackett ausgetragen; die
Ellebogen wie ein O hervorstechend. Die Jeans im Rhythmus des Ganges sitzend. Die Stimme verhalten, freundlich-wohlwollend.
M sah ich häufig durch´s Schaufenster der Galerie. Mitunter begleitete ihn eine weibliche Zierde, in ihrem Erscheinen
ebenbildhaft.
Das Stadtviertel tradiert: Rentner, Studenten, Handwerker. Goldene Zeiten gab´s im Viertel während der Zwanziger- und
Dreißiger Jahre, danach war Adolf Hitlers Völkischer Beobachter, das ihm die bayerische konservative Creme de la Creme
gestiftet hatte, Zierblatt der Schellingstraße; doch dies war alles Vergangenheit, darüber verlor keiner ein Wort...
Mitunter kam Mike auf ein Schwatz, entweder alleine oder in Begleitung der erwähnten Dame, die ihren Redefluss über
die Anwesenden und den Raum ergoss. Worte, geradezu gemeißelt, nahmen Platz in der Leere der Galerieräume und im
Gedächtnis der Zuhörer.
Ein plötzlich hereinbrechendes Telefonat beendete die Begegnung, meistens erfolgte eine Verabredung nach Geschäftsschluss. Betrat ich M`s Wohnung, ertönte im Hintergrund das Radio mit einer Kultursendung oder Musik von den
Einstürzenden Neubauten, die in ihren Songs emblematisch zu seiner Auffassung der Gegenwart waren.
Die Eingangstüre schmückte ein Sinnspruch Rainald Götz, dieser mahnte M täglich aufs Neue, von der Perfidie der Zeit
Abstand zu nehmen. Auf dem Küchentisch breitete M`s Welt im alltäglich Kleinen eine Partitur der Unordnung aus. Leere
Tassen wiesen auf die Anwesenheit verschiedener Besucher, deren Anwesenheit schon zurücklag; sie verblieben, ohne
den Hausfrieden zu stören. Ein überquellender Aschenbecher huldigte vergangenen Augenblicken, die die Bruchstücke
der Gedanken belegten. Es bedurfte nicht der Rede, lediglich die Betonung des Nichtssagens trat in Erscheinung.
Gelegentlich schlug ich vor, zu kochen. Doch zuerst musste allerhand Unrat beseitigt und benutztes Geschirr auf Vordermann
gebracht werden, bevor ich im Einwecktopf das mitgebrachte Rindfleisch ansetzen konnte. Die Lichtverhältnisse waren so diffus, dass ich jeweils den Topf vom Herd nehmen musste, um den Fortgang des Bratens zu beurteilen.
War das Essen zum Verzehr gediehen, schob M die Dinge der Zierde des Tisches zur Seite, fügte zwei Teller hinzu und
wünschte in den Rachenraum gesprochen, "Guten Appetit!" Gleiches erwidernd, nahm ich Messer und Gabel und versuchte
über das Ambiente des Tisches hinwegzusehen.
Obwohl die Begegnungen herzlich und offen waren, waren sie doch von einer Wortlosigkeit, die die Stille maß, ohne von ihr
befremdet zu werden.
Fragte ich nach seinen Texten, kam nicht sofort eine Antwort, vielmehr ein Innehalten, dem keine Antwort hinzugefügt wurde.
An anderen Tagen, soweit seine Zuversicht ins Dasein vorhanden war, kam M mit einem Din A 4 Blatt, dem der Weltschmerz
die Zeilen diktiert hatte. Und je nach Lage seiner Verfassung, deklamierten seine Worte Schmerz, Hoffnung oder die Verfehlung
der Welt, deren Widerschein aus ihm sprach. Ähnlich Schwitters Ursonate, ertönten Vokale, die die Welt von der Schattenseite in
bester Absicht beleuchteten. In diesen Momenten sprach "Der Mann ohne Eigenschaften" oder Ludwig Hohl in der Wahlverwandtschaft aus ihm.
Seine Biografie: ein Siegel, ab und an zeigte das Siegel Durchlässigkeit, hierbei traten jedoch auch nur bruchstückhafte
Worte hervor, die von der Scham geprägt waren, eine Vergangenheit gehabt zu haben. Aufgewachsen in einem Pfarrhaus,
mit vier oder fünf Geschwistern, der Jüngste nimmt sich früh das Leben, ebenso die Mutter. M kommt in eine Pflegefamilie,
hierüber gab das Siegel keine Information preis. Nach der Matura, Studium der Germanistik in Berlin. Verkehrt mit Künstlern und
Literaten. Erste Wortgefechte auf Papier, öffentliche Pamphlete im Sinne Münzers wieder die Zeit; aus Ohnmacht vor der Zeit?
Die Jahre gehen dahin. Plötzlich wird München eminent. Inzwischen hat die außerparlamentarische Opposition Platz in der
Gesellschaft genommen. Um so mehr muss M die Polemik praktizieren.
Die Individualität wird mit der Zeit zur Insel, "dort drüben" ist die zu antizipierende Welt. Der Fluch sei ihr beschieden!
Die Begegnungen nehmen keinen wirklichen Platz ein. Verstärkt treten bei M psychische Probleme auf.
Verheißungsvoll nimmt M Psychopharmaka, doch das Aussersichsein bleibt das Selbst zu sich Selbst.
Eleonora, Das Brot der frühen Jahre…
Malerin, ihr Thema, das Brot der frühen Jahre: klein, schmächtig, kraftvoll, wesentlich.
Haus Usher, auf einem weitläufigen Grundstück stehend, ebenerdig mit Satteldach, bewohnt von Elionora und ihrem Gatten.
Den Salon zieren Rokokomöbel mit Elionoras existenziellen Bildern. Eine ungleiche Ehe. Zum Betrachten der Bilder wird mir
kaum Zeit gewährt, stattdessen beginnt Elionora auf den Sofa sitzend, von ihrer letzten Lektüre ausführlich zu erzählen.
Zufällig erscheint auch der Gatte, der sofort harsch angefahren wird, warum er ausgerechnet in diesem Moment im Salon erscheint!? Wobei Elionora das Gespräch umgehend in einem Plauderton mit mir fortsetzt.
Das Gespräch kommt auf Günter Franke, ihren verstorbenen Galeristen, der sie trotz seines inzwischen großen Renommees,
in seiner Galerie, in der Maximilianstraße, ausstellte; dies ein beispielloser Moment in ihrer Künstlerlaufbahn.
Indessen war Franke verstorben, ihre Kariere geriet ein wenig ins Stocken.
Eigentlich kam Elionora von der Modezeichnung, entdeckt ihr Talent für die Karikatur und geht dann einige Zeit auf die HDK
in Hamburg. Aber dies liegt schon in weiter Ferne. Inzwischen um die achtzig Jahre, doch ihr behendes Auftreten stellt dies
sofort in Abrede.
Auf Elionorars Bitte, bereitet der Gatte Tee und serviert diesen stilvoll. Nun sitze ich neben dem Energiebündel und höre mir ihre
Schilderungen an. Gebürtig in Polen, kam sie jung nach Deutschland. Nahm diese oder jene Möglichkeit wahr, um sich
künstlerischen fortzubilden. Zeitweilig arbeitete sie in der Werbung und lernte dadurch ihren Mann kennen, der der Boss
des Unternehmens war. Ein sanftmütiger Berliner, wie mir schien.
Das Gespräch drehte sich mehr um Literatur denn um Elionoras Bilder, deretwegen ich sie besuche. Ich überlege, wie kommt
Elionora auf das Thema des Brotes als Motiv für Ihre Malerei? Die Bilder sind keine Stilleben, eher großformatig, expressiv
in der Gestaltung, auf denen die Leiber wie Sinnzeichen einer vergangenen Zeit figurierten, gleichzeitig aber auch als
Symbol einer Kulturlandschaft.
Nun befinden sich die Bilder in der Zwiesprache mit der Epoche von Madame Pompadour und wirkten wie Fremdkörper,
deren wahrer Platz noch aussteht. Die Möbel sind indessen nicht mehr Ausdruck einer Epoche, sondern Zierrat einer
gesellschaftlichen Disposition, wo sie Mittelpunkt bürgerlicher Repräsentation bezeugen.
Ich fragte mich, wie kann dabei eine ästhetische Manifestation stattfinden? Wahrscheinlich ist alles, was den Raum kennzeichnet, nurmehr Staffage. Anderseits hat die Schroffheit der Gegensätze ihren Reiz und gibt dadurch keinem Element
im Raum ein Übergewicht.
Wie Elionora nochmals betont, ist die Literatur ihre große Leidenschaft, der sie sich widmet, wenn sie nicht ihrer künstlerischen Arbeit nachgeht.
Noch habe ich das Atelier, das sich im Dachgeschoss befindet, nicht betreten. Soviel ich erfahre, gibt es umfangreiche
Konvolute auf Papier in Pastell, Tusche, Mischtechnik und in Form von Zeichnungen. Hierauf bin ich ganz neugierig, doch
augenblicklich sind wir noch mit dem Teetrinken und dem gegenseitigen Kennen lernen und mit der Literatur beschäftigt.
Zwischen uns liegt der Abstand von mindestens vierzig Jahren, unterschiedliche Erfahrungen und bestimmt eine andere
Sicht auf die Welt. Wie sich unsere Worte dabei berührten, ist mir im Nachhinein rätselhaft. Über alle Unterschiedlichkeit
treffen wir uns über die Literatur, die wir erörtern und zugleich als Bilder in unserer Vorstellung wachrufen.
Dabei begegnen wir dem Hilfsbuchhalter Fernando Pessoa in Lissabon oder Anna Achmatowa, wie sie ihre Liebeslyrik in den
Raum spricht, um dem Liebhaber all ihre Sehnsucht nachzurufen.
Oder wir winken dem bei Nacht und Nebel flüchtenden Oskar Wilde zu, nachdem er im Zuchthaus von Reding die Strafe als
vermeintlicher Verführer von Douglas absaß, seinem ehernen Freund, auf dem Weg nach Dover, wo er als Passagier eines
Kohleschippers, auf der Flucht vor der Ächtung in England, nach Frankreich flieht. "Pfui, ist diese Zeit gemein!"
Der Raum wird allmählich dämmerig, die Patina der Rokokomöbel wird matter und erlischt zusehend.
Elionora spricht zunehmend verhaltener, so als wenn ihr die Worte ausgegangen sind und erhebt sich. Ich erhebe mich ebenso und folge ihr. Wir treten in den Flur und nehmen die Treppe rechts nach oben zum Atelier. Mehrere Räume, unterschiedlicher Größe, bergen Bilder, Arbeiten auf Papier, Graphikschränke, große Arbeitstische und Unrat auf dem Boden.
Elionora hebt einzelne Blätter in die Höhe, um sie zugleich wieder hinzulegen, als wenn sie damit etwas verbergen wollte.
Ich übergehe diese Unsicherheit geflissentlich und schaue schnell woanders hin. Schließlich verletze ich gerade die Intimität
ihrer Arbeitsatmosphäre, wie mir scheint. Plötzlich tritt ein Verstummen an die Stelle der Beredsamkeit.
Ihre Bewegungen drücken fast ein Befremden aus, jemandem diese „Blöße“ zu gewähren. Es vergeht nicht viel Zeit, und
Elionora drängt die Räume zu verlassen. Wieder gelangen wir in den Salon, bei dessen Platzeinnahme Elionora kommentiert:
"Tja, jetzt haben Sie einen Überblick über meine Arbeit!"
"Jaja, gewiss!", füge ich gleich an.
Elionoras Stimme wird einsilbig, so dass ich mich erhebe, um mich zu verabschieden. Im Fortgehen ruft mir Elionora noch
hinterher, kommen´s Mal wieder!
"Tja, Tja! demnächst!
Juliette, Unverkennbares Selbstbild…
Juliette war die nachgeborene Windsbraut, kleinwüchsig, zierlich, immer
extravagant, nie Mainstream.
Kam sie zu Besuch, so erforderte dies äusserste Konzentration, denn ihre
Liebenswürdigkeit, ihre Hingabe, die Sprache in ihrer Exaktheit überzustrapazieren, ließ nicht nach.
Dabei vermittelte ihr Pariser Schick das Flair, um die Jahrhundertwende am
Montmartre. Mademoiselle Juliette hatte gerade einen Tete a Tete mit dem
alten Maler Toulousse Lautrec, der sie bat, ihr Petit Fou, wie er dies nannte,
abzulegen, noch zierte sie sich. Diese und allerhand andere Geschichten
kreuzten ihr Leben, ohne ein Verweis in die Gegenwart zu sein.
Die kleine Schwester einer Größeren, metapherreich im Wort, Mitte Dreissig.
Die Formvollendung, der sie künstlerisch nachging, war bestechend: Keramische
Skulpturen, die die Mondkrater quasi zur Erde beförderten; edel in der Vollendung.
Doch ihrer Schönheit willen, blieben sie wie Findlinge, die dem Mutterschoß nie
entwachsen waren.
Juliettes unverkennbares Selbstbild: das Mondäne als ihr Kennzeichen.
Meistens hatte sie Nachsicht mit dem ihr begegnenden Unverständnis, schließlich
war sie sie und nicht anders. Begegnete ich ihr auf der Straße, war ihr Lächeln im
Einklang des Wortes der Begrüßung. "Wohin des Weges?!" Tja, wohin des Weges...?
Die uneingestandene Beliebigkeit entwickelte einen Horizont; Juliette, mittendrin,
die Worte drangen aus ihr heraus und suchten Halt beim Gegenüber!
Doch das Gegenüber blieb stumm, weil ihn die Worte Juliettes nicht erreichten.
Also ging jeder wieder seines Weges.
Die Wiederbegegnungen waren unterbrochen durch längere Zeitperioden, damit die
Neugierde auf das Leben des anderen vorhanden war.
Ging es dann um Dos Passos, Steinbeck oder T.S. Eliot, immer gebrauchte sie die
passenden Worte, die die Nähe zu den Autoren ausdrückten. Ich ergab mich mitunter
ihres Redeflusses, bedenkend, von diesem nicht erschlagen zu werden.
Häufig trat Mitternacht gähnend hervor, und ich musste bitten, der Zeit zu entsprechen. Dies führte nicht zum Aufbruch, nein, nein, erst musste noch der Schwall
der Worte heraus. Und dann, war die Behäbigkeit schwer zu bewegen.
Einmal kam sie, Liebeskummer oder wie dies der Bequemlichkeit wegen genannt
wird, mitteilend. Irgendwo hatte sie einen steilen Zahn aufgetan. Natürlich nahm sie
ihn sofort mit zu sich, wo er auch zeitweilig verweilte. Wie sie äußerte, hatte er das
Wesen eines Nomaden, dessen Mitteilungsdrang nicht dem ihren entsprach, so dass
die Missverständnisse offenkundig waren.
Wie schon hervorgehoben, bedurfte alles ausgiebiger Erörterung, ebenso das Thema
ihres Lovers. Mich interessierte dieser Kerl nicht, aber dies spielte keine Rolle, war er
doch nunmehr Teil ihrer Lebens, an dessen Geschehen sie all die teilnehmen ließ, die
ihr ein Ohr dafür schenkten, deren Trommelfelle sie damit marterte.
Außer einem tröstenden Nicken fiel mir nichts dazu ein. Da Juliettes Schilderungen
sowieso dem eigenen Selbstbild verpflichtet waren, kam es überhaupt nicht darauf an,
in einen Dialog zu treten, es genügte die Anwesenheit, der sie als Gegenüber Worte
darbringen konnte.
Obwohl Juliette nicht meine große Wertschätzung hatte, war sie trotz allem nicht abzuschütteln, so dass sich diese Begegnungen wiederholten, ohne eine persönliche
Notwendigkeit gehabt zu haben.
Irgendwann vermochte ich es, ihr nahezulegen, von weiteren Besuchen abzusehen.
Hin und wieder kreuzte sich unsere Wege in der Stadt, und dabei blieb es.
Betty, Ungelegene Begegnung…
B traf ich zufällig mit Mike: mokafarben, groß, schlank, polyglott parlierend. Ich, ein flüchtiger Gast inzwischen
am Ort.
Wie mir schien, hatte B. Interesse. B. hatte jedoch einen Lover, wie ich erfuhr.
Eines Abends, ich besuchte D., war auch B. zu gegen. Wir rauchten ein wenig in der Runde. Ich wollte
allerdings nicht zu lange bleiben, und wie sich herausstellte, B. ebenso, so dass wir gemeinsam uns verabschiedeten. Im Treppenhaus schlug B. vor, noch eine Runde im Carre zu drehen. Ich hatte dagegen nichts
einzuwenden. Ein klarer Spätherbstabend, schritten wir nebeneinander. Bruchstückhaft drangen einzelne Worte aus
ihrem Mund in den Abend gesprochen. Ich hörte zu, ohne etwas zu erwidern. Mitunter bewegte sie dabei ihre feingliedrigen Hände. die wie Schimären im Nachtschimmer erschienen. Am Rande eines Pappel gesäumten Weges
setzte sie sich auf einen Streukasten, zündete sich eine Zigarette an und schaute mich herausfordernd an. Ich trat
zu ihr hin, küsste sie auf die Stirn und blieb vor ihr stehen. Der V-Ausschnitt ihres Pullis lockte ihre Brust zu berühren.
Unvermittelt spürte ich, wie meine Hände magisch angezogen, zu ihrer Brust sich ausstreckten, in Händen haltend,
fühlte ich ihre Brustwarzen als Energiefeld auf meiner Haut, die ich wie zum Schutz barg.
B. drückte sogleich ihren Kopf an meine Brust.
Wie das Gerücht kursierte, kam sie aus einer Diplomatenfamilie des Sudan. Casablanca, Paris und andere Stationen hatten
sie in ihrem jungen Leben für das Leben präpariert. Inzwischen war sie in München sesshaft geworden oder war dies auch
nur eine Station ihres Lebens?
Ihre Augen glühten wie die Augen eines Schakals, vermittelten Freude, Lust und Gestimmtheit.
Wie sie erwähnte, hatte sie gerade keinen Strom in der Wohnung, weil sie auf Reisen war, und vergessen hatte, eine
Regelung mit dem Stromlieferanten zu treffen. Wenn ich mit ihr kommen wolle, säßen wir im Dunkeln! Und auch die Heizung
sei abgestellt, so dass die Wohnung kalt sei.
Da ich nur zu Besuch in München war, war es nicht möglich, sie mit zu mir zu nehmen, also blieb uns nur ihre sehr kalte
Wohnung oder besser gesagt, nur das Bett in ihrer Wohnung und das gegenseitige Verlangen.
Also begaben wir uns auf den Weg zu ihrer Wohnung. Da die Witterung für Zärtlichkeiten auf der Straße nicht gerade geeignet
war, schritten wir im Eiltempo voran, um möglichst umgehend in ihrer Wohnung zu sein.
Die phantasievoll gestalteten Räume weckten gleich mein Interesse. Zudem gab es einen Raum, der der Schuhraum war, hier
standen unzählige Pemps und Pomps und wie sie auch hießen, und schmückten den Fußboden. Überall zündete Betty
Kerzen an, drehte noch einen Joint und schlug die Bettdecke zur Seite, an dessen Ende sie noch zusätzlich einige Decken
legte.
Da saßen wir nun auf dem Bett am Boden, dessen Plafond ein rosa Seidenbaldachin in ungleichmäßiger Faltung schmückte.
Auch in den Wohnräumen war quasi Außentemperatur, so dass die Finger gefroren und für eine lockere und zärtliche Berührung
kaum Gelegenheit war.
Also entkleideten wir uns schnell, das heißt, B. verschwand noch einmal auf der Toilette und kam in einem Umhang, der
durchsichtig war, zum Bett. Zweifelsohne hatte sie Anmut, Feingliedrigkeit und Grazie. Das Tuch ablegend, schlüpfte sie unter
die Federdecke. Ich rutschte zu ihr hin, berührte ihren Schamhügel und küsste ihre Brust. Doch dies war, wie B. gleich
betonte, ihr zu wenig Bewunderung. Sie wollte zuerst verbal gehuldigt werden, bevor sie sich dem Liebesspiel ergeben wollte.
Ich schaute erstaunt, war es nur ein narzistischer Hang? Da lagen wir nun, frierend, weil plötzlich die Übereinstimmung fehlte.
Mir fehlten aber auch in der Raumtemperatur die Worte, um B. genüge zu tun. Bestimmt war sie eine schöne und anmutige
Frau, aber warum sollte ich meine Zuneigung in diesem Moment in Worte kleiden? Eine paradoxe Situation, bei der wir plötzlich
wie zwei Sprachunmächtige uns nicht erkennen konnten. Mittlerweile war Mitternacht verstrichen, der Weg zu der Wohnung, in
der ich übergangsweise als Besucher nächtigte, war am anderen Ende der Stadt.
Wie ich fühlte, war es besser, mich wieder anzuziehen und zu gehen.
Auf der Straße stoppte ich ein Taxi , dessen Fahrer mich zu der gewünschten Gastadresse brachte, wo ich das Erlebnis
dem Schlaf preisgab.
Gisela Elsner, Eine schmächtige Person…
Gisela Elsner begegnete ich bei einem Komponistenfreund.
G. E. hatte hatte ihm ein Libretto für eine Oper verfasst.
Ich hatte bis dato keine Kenntnis ihrer Person, noch ihre
Romane gelesen.
Da saß nun eine schmächtige Person: ovalen Kopf zierten
hochgesteckte Haare. Die Augen drückten Selbstsicherheit
aus. G. E. war nicht mein Typ, jedoch anwesend.
Ein tailliertes Jackett über einer darunter sitzenden Bluse
vermittelte einen bürgerlichen Habitus.
Hin und wieder entnahm G. E. der rechten Jacketttasche
einen Flachmann, den sie ohne Scham ansetzte - gerade den Redefluss unterbrechend - um ihn wieder in der Außentasche
unterzubringen.
Wie mir später berichtet wurde, sind die Romane von G. E.
das Spiegelbild der Wirtschaftswunderjahre, wo sich Hänsch-
en Klein, erst vor wenigen Jahren aus dem Krieg zurück-
gekehrt, das Gewissen indes entnazifiziert, in der Hollywoodschaukel im Zeitvertreib ergeht.
Es sind die Jahre, in denen jedermann bezeugt, nur seine
Pflicht getan zu haben. Es sind perfide Jahre...
Natürlich wollte G. E. im Mittelpunkt stehen, der Gastgeber
und seine Lebensgefährtin nahmen dies hin. Ich widersprach,
ließ mich auf eine flüchtige Diskussion ein. Wie mir schien,
war G. W. viel alleine und hatte wahrscheinlich schon dadurch
das Bedürfnis, sich mitzuteilen. Irgendwann war es mir der
Einwände auch zu viel, und ich ließ es auf sich beruhen.
G. E. familiärer Mittelpunkt war Nürnberg, ähnlich wie Claire Goll, die auch aus dem Ort der Walhalla kam. Der Vater,
Bahndirektor, der Tausende von Untergebene deligierte, und
zur "besseren Schicht" des Ortes gehörte. Was der Tochter in
ihrem Freigeist widerstrebte, und wogegen sie opponierte,
satirische Romane daraus gestaltete.
Um der gesellschaftlichen Enge zu entfliehen, zog G. E. in verschiedene Städte Europas, kurz auch in die USA, und doch,
Bayern zog G. E. immer wieder zurück.
Nun war München schon länger ihr Lebensmittelpunkt, wo sie
den Spagat der freien Autorin in einer saturierten Gesellschaft
lebte.
G. E´s. Rede hatte etwas Selbstgefälliges, wie mir schien, war
ihr dies durchaus bewusst. Trotz allem bekam sie ihren zungenschlagenden Mund nicht zu.
Aus Höflichkeit nickte der Gastgeber und seine Lebensgefährtin
den Auslassungen zu, insgeheim sich amüsierend.
Irgendwann fragte ich G. E. wie sie mit diesem Alkohol intus
nach Hause fände? Oh, dies sei kein Problem, denn sie habe
ihren Taxichauffeur schon instruiert, ab einer bestimmten Zeit
vor der Haustüre zu warten.
Das Gespräch entwickelte sich um den Komponisten Hans
Eisler, und die Frage, welche Auswirkung sein Frühwerk auf die
nachfolgende Komponistengeneration habe, in dessen Kontext der Gastgeber sein eigenes Schaffen sah.
Auch hier war G. E. die lauthalse Protagonistin des Abends.
Über so viel Gelehrsamkeit, in Verbindung mit dem Alkoholspiegel, ließ es sich nicht vermeiden, daneben zu greifen.
Allmählich wurden die Hühnerbeine serviert, deretwegen die
Einladung stattfand, die für den Augenblick G. E. mundtot
machten. Wohltuend war die Auswirkung, wenigstens während
des Essens ihre Stimme entschwunden zu glauben.
Nachdem die Hühnerbeine zur Zufriedenheit der Anwesenden
verschlungen waren, ging es erneut um Hans Eisler und sein
Zusammenwirken mit Berthold Brecht. Und wieder führte G. E. ,
zu meinem Leidwesen, die Debatte an, wobei sich zeigte, dass ihre Zunge inzwischen der Formbildung der Worte versagte.
Die Zeit schritt voran, und ehe die Anwesenden sich versahen, war es Mitternacht, die Auswirkung gab den vergangenen Stunden ein Unbehagen, und wollte eigentlich den Abend vergessen machen.
Evelin Schertle, Dem Numinosen begegnen...
Ein Foto geringer Größe, S/W, auf diesem eine kniende weibliche Person. Holzspeidel in
unterschiedlicher Größe und Umfang, werden von dieser ähnlich Schachfiguren auf einer
Holzplatte, zu einem Tableau konfiguriert. Der Widerschein wie Klippen im Meer, die von
den Fluten umspült werden. Ähnlich Malen, Zeichen des individuellen, deren Merkmal
wie Wegzeichen in den Raum weisen.
Durch die Vielzahl im Gleichnis, das rhythmisch sich gebiert…
Der Anblick weckt die Vorstellung, inmitten Energiefelder sich zu bewegen, die in hieratischer
Position erscheinen.
Losgelöst von jeder Vorstellung, weist hier eine Fläche zum Raum, die diesen konfiguriert,
und mit diesem sich vereint.
Ein Dialog: Im Umfang 10 x 10 x 6; 80 x 140, zwei Seitenwände, dies der Raum, eine Rückwand
an welchem das Tableau im Verhältnis zum Raum seinen Platz hat.
Raum mit Bild, was bestimmt den Raum mit dem Bild: „Upwind“, ein „heftiger Luftzug“ dringt in
den Raum, bestimmt das dritte Element, das allerdings nur periodisch bleibt oder in der Allegorie
des Tableaus „zutage“ tritt!
- Es gibt nichts zu erklären, Weissagungen bestimmten die Merkmale, deren Route ich folgte.
Es stellte sich das Verlangen ein, unmittelbar diesem „Upwind“ zu begegnen…
Voraus wechseln Worte der Gegenseitigkeit, die die Welt der Künstlerin Evelin Schertle,
eins aufs andere fügt. Ich trat in Ihre Nähe, dies blendete meine Augen, die von den Objekten
eingenommen waren.
Wie ich spürte, vermischte sich meine Vorstellung mit der Quelle des Schöpferischen, das mich
plötzlich umgab.
Die Vielzahl, dessen was die Künstlerin gebar, addierte einen Kosmos ungeahnten Ausmasses.
Dies wechselte mit Rezitationen von Gedichten, zu Sinnsprüchen, zu philosophischen Traktaten,
um wieder bei den Tableaus zu enden, deren Resümee, all dies vereinte.
Ich befand mich in einer Umnebelung, geistiger Potenz, deren Ausmaß ich nicht ahnte. Raum und
Zeit verloren ihr Angesicht.
Nun unterbrach ich das berede Schweigen der Künstlerin, durch meine Anwesenheit, die darin
in Zwietracht geriet, bis der Austausch an die Stelle der Zwietracht trat.
Der Blick aus dem Atelierfenster, weite Landschaft, Wald, zum Teil Mischwald. Dies das Terrain
der Künstlerin, die darin die Sammlung und Vielschichtigkeit zwischen Atmosphäre und Eindruck
erfährt. Eine Verbundenheit, die lebhafter Teil ihres Lebens wurde und Verklärungen schuf, die
als bildnerische Gleichnisse in ihr Werk eingingen. Ur-Formen, Karl Blossfeld verwandte die
Bezeichnung dafür, Urformen der Kunst, also die Bejahung des Wechselverhältnisses, zwischen
Individuum und Natur/form, die die Ausprägung der Konfigurationen bei der Künstlerin fördert.
Hierbei unterscheide man jedoch, zwischen individuellem Impuls, dem künstlerischen Drang und
den Naturformen, die Überlagerungen bewirken. Es ist ein endloser Prozess, da beides individuelle Erscheinungen sind, die die Synthese bewirken. Bei der Künstlerin Evelien Schertle, gebieren
sich neue Formen, die zu Tage treten, bei dem Wald bestimmt der Gezeitenwechsel, der eine
andere Form bewirkt.
Dabei wurde die Zeit, die vergehende Zeit, unerheblich, sie wurde nicht mehr ermessen. Die
Künstlerin trat in einen Zwischenraum, der Bedürfnis und Gleichnis einte. Diese einen die
Matamorphosen Ihres Werkes, die die Spuren der endlosen Wege in der Natur sind: dies der Moment,
wo sich die Wesenheit trifft und von ihr beschritten wurde.
Vielleicht ist es unvermeidlich, der Welt zu entrücken, die eigene Welt in den Vordergrund des
Daseins zu rücken, um wahrhaftig zu sein?
Fast eine Verneinung der äußeren Welt, beständig zu erwirken? Deshalb gab es Perioden, in
denen die Künstlerin ähnlich den Tarahumaras Langstrecken lief, um der Konzentration, der
Reinheit zu genügen…
Das Alleinsein, für sich sein, bildete den Impuls, zu sich zu finden, dem Schöpferischen zu
genügen.
Es bestand für die Künstlerin kein Grund, den Konsens mit anderen, mit der Gesellschaft
zu suchen. Die Abgeschiedenheit war seit jeher ihr genug.
Gab es von Dritten eine Anerkennung, nahm sie dies mit Scham zu empfinden hin.
Dies die Art und Weise, die das Alleinsein für sich schuf.
Ich nahm die Entrücktheit zur Kenntnis, die nicht Ablehnung, eher sich selbst zu sein, bezeugte
und versuchte, während meiner Anwesenheit, der Künstlerin den ihr notwendigen Raum zu
belassen.
Es begann eine Zeit gegenseitiger Wertschätzung.
Die Begegnung war elementarer Natur, und dadurch existentiell.
Das Werk hatte Priorität und erfuhr dadurch Dialog und Anregung.
Mit stetem Elan evozierte Evelin Schertle Werke, die ihr stupendes Können belegten.
Ergaben sich Fragestellungen, antwortete sie umgehend mit einer künstlerischen Antwort.
Dies Kredo und Inspiration, bei dem die Gattungsbezeichnungen in den Hintergrund rückten.
Zutage trat eine Sprache, die dem Numinosen ein Gleichnis bot….
Evelin Schertle, ART IN PROGRESS...
Wandle in meiner Stimme,Vers des Persers,
erinnere, dass die Zeit
buntes Gewirk ist aus den gierigen Träumen,
die wir sind, und das
bald der Geheime Träumer auflöst.
Luis Borges
Verständnis für ihre Persönlichkeit, zeigte eine Tante, bei der sie Bestätigung und Wohlwollen fand. Hier konnte sie ihre künstlerische Begabung ausleben. Im Laufe der Jahre wurde dies zur Wirkungsstätte, die bis zu deren Tod währte.
Indes ergab sich noch eine Freundschaft zu einem Nachbarjungen, der ebenfalls künstlerisch talentiert war, jedoch mehr in den angewandten Bereich tendierte. Diese Begegnung schuf für beide einen gesellschaftlich nicht sanktionierten Freiraum, innerhalb kleinstädtischer, Verhältnisse.
Siebzehnjährig begann sie ihr Leben selbständig zu führen. Erstmals hatte sie nun „Gelegenheit“, soweit die freie Zeit dies ermöglichte, ihrer Berufung nachzugehen. Indessen starb die Tante, bei der die Kommoden prall mit Zeichnungen gefüllt waren, deren Hausrat entsorgt wurde.
Studienreisen in die Iberoamerikanischen Länder, nach Ägypten, in den europäischen Raum, wechselten ab mit Ortswechsel, die das Andere offenbaren sollten. Schließlich fand sie einen Ort im Hochschwarzwald, wo die Natur immerwährende Veränderungen gebiert.
Hier wird das künstlerische Empfinden zum Gleichnis: Kohlezeichnungen, werden zu Entsprechungen, wobei Konfigurationen, ungeahnten Ausmaßes hervortreten: Bäume, Sträucher, Pflanzen, Gräser, erfahren eine meta- phorische Verklärung, die zu Wesen in einer sublimierten Erscheinung werden: Dies wachgerufen, durch die intensive Verschmelzung zwischen Naturerscheinung und Empfindung.
Inzwischen ist die Synthese der Natur und dem Wesen der Künstlerin bindend, bahnt sich eine neue Konfiguration an: Sounds, im Rhythmus angeordneter Holzspltter unterschiedlicher Größe, die auf der Fläche dialogisieren: Nähe, Abstand, Zwischenräume, Hell und Dunkel schaffen Akkorde, Tempi, obwohl kein hörbarer Ton erklingt, z. T. fre- netisch klingen lassen.
Dies setzt sich fort, indem die Künstlerin statt mit Material, mit Farbe arbeitet, der es nun auch um Räume, Zwischenräume geht, die ihre INSPIRATION im „Mosaik“ der „Waldflächen“ hat… die Gebilde ungeahnten Ausmaßes schuf, die durch die Zufälligkeit, dazu anregten, Tableaus in Farbe zu gestalten.
Diese bilden die Formation ihrer stupenden Ästhetik der Unter-und Überlagerung, die in ihrem achtlosen Sein den Augenblick des Lebens vor der Vergänglichkeit bestimmen: apropos Tree, Eternal Blues, Spirit nennt die Künstlerin diese Zyklen.
Dazwischen entstehen thematisch analoge Tableaus, die eine noch ausgeprägtere Konfiguration haben, jedoch als einzelne Exponate, Format und Individualität beanspruchen, keinem Zyklus zuzuordnen sind.
Zeitlich abgelöst werden diese, durch die Illumination of landscape, die im Wechsel lyrischer Impromptus, das Thema der horizontalen zur vertikalen Verschränkung auf den Raum verweisen. Deren Konfiguration wird zeitweilig durch kubische Formen, Stelen, unterbrochen, bei denen der Kubus mit pflanzlicher Umschlingung zu tage tritt: ähnlich einer Umarmung, Symbole der Vier Elemente, so der Titel.
Hierauf entstehen in zeitlicher Folge, die Arbeiten Dynamik, die den Raum in der Fläche wie zur Mondfinsternis, durch graue, gewundene Furchen in einer ungleichen waagrecht- en Bahn durchbrechen. Chaos und Ordnungsbestreben, bestimmen den „Klang der Bilder“ von rhythms of seasons, deren horizontale Verläufe, in einer Vielzahl von Erscheinungen parallele Elemente ge- bieren, die die Autonomie ihrer Erscheinung betonen und ein Ensemble evozieren, das in den Raum, der die Kulisse bildet, verweist.
Auch während dieser Schaffensphase entstehen wieder singuläre Werke, die keinem Zyklus zugehörig sind, jedoch ein Thema manifest werden lassen. Upwind, so der Titel, der nachfolgenden Tableaus, die sowohl die Materialität als auch das Fatum der bloßen Akzentuierung der malerischen Lyrik konfigurieren: dem Festen und dem Fragilen im vis á vis Vorschub zu gewähren. Rhythms, wo Zufall und Einklang gebieterisch zueinander stehen. Wieder tritt das Plane, das rhythmisch selbstredend ist, zu der Fragmentierung des Raumes als Fläche hinzu.
Handzeichnungen
Parallel zu den Tableaus, gebiert die Zeichnung, Schwarz/ Weiss oder farbig, einen autonomen Platz; ihre Stringenz er- langen diese durch die Valeurs der Subjekte, die Dasein und Illumination verkörpern. Wobei das Subjekt, das subjektive Subjekt, die Konfiguration bestimmt.
Diese mögen Ereignisse im Entstehen sein, verbleiben jedoch in ihrer metaphorischen Welt und suchen nicht die Zustimm- ung. Ähnlich einem Fatum, sind sie Male, Weissagungen der Imagination.
Anschaulich wird dies in den Exponaten der nachfolgenden Zyklen:
1 Metamorphosen
2 Samen
3 Energien
4 Organismen
5 rote Spuren (Rötel)
6 Spuren (Schwarz/WeIss)
7 Mikrokosmen
8 Reflex des Pfauenauges
9 Melodie der Arabeske
10 Capriccio
11 Wahlverwandtschaft, u. a.
12 Echo